Beijing – Shanghai

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute berichtet Tobias Wälti von seinen Eindrücken aus dem chinesischen Fernverkehr.

China ist ein Land, das mit seinen gigantischen Dimensionen jegliche Vorstellungskraft sprengt: Dutzende unbekannte Millionenstädte, endlose Felder und abwechslungsreiche Landschaften. Zugreisen sind eine ausgezeichnete Möglichkeit, diese unfassbare Grösse greifbarer zu machen. Zudem lernt man nicht nur das Land, sondern auch die Menschen besser kennen, wenn man Stunden mit ihnen zusammen im gleichen Abteil verbringt. Ich freue mich deshalb, wieder einmal mit dem Zug von der chinesischen Hauptstadt Beijing in die gut 1200 km entfernte Wirtschaftsmetropole Shanghai zu fahren – jetzt im Frühling ist es nämlich besonders schön, die Landschaft wie einen Film am Fenster vorbeiziehen zu sehen.

Die Reise im Hochgeschwindigkeitszug beginnt mit Anstehen inmitten einiger ungeduldiger Chinesen und ein paar westlichen Touristen, welche unsicher um sich schauen und sich vermutlich fragen, ob sie am richtigen Ort stünden. Ich muss die vor zwei Tagen für gut 80 Franken online gekaufte Fahrkarte am dafür vorgesehen Schalter abholen. Würde ich jedoch eine chinesische Identitätskarte besitzen, könnte ich meine Fahrkarte ganz schnell am Automaten daneben beziehen: man muss nur seine ID über den Chip-Leser ziehen und schon wird das Billett ausgedruckt. Einziges Hindernis beim Ticketkauf bleibt für alle Reisenden der nächtliche Verkaufsstopp für Online-Tickets zwischen 23 und 7 Uhr – eine Eigenheit des chinesischen Alltags, deren Sinn sich mir in der Zeit, die ich hier lebte, nie erschlossen hat.

Bahnhöfe so gross wie Flugplätze

Glücklicherweise ist die Schlange vor dem Schalter am heutigen Tag aber kurz und ich habe genügend Zeit eingeplant. Zudem lösen die freundlichen, aber bestimmt auftretenden Schalterangestellten alle Probleme rasch, sodass ich mich bereits nach kurzer Zeit mit meinem Ticket in der Hand in Richtung Securitycheck aufmache.

Die riesigen chinesischen Bahnhöfe erinnern viele europäische Besucher an Flughäfen. Und wie an einem Flughafen heisst es beim Betreten der Wartehalle, die Tasche zum Scannen auf das Förderband zu legen, den Pass zu zeigen und durch den Personenscanner zu schreiten. Dass es bei meinem Check mehrfach piepst, scheint nach einem kurzen Abtasten allerdings niemanden mehr zu stören. Die Sicherheitsbeamten interessieren sich eher für den Reisenden nebenan, der gerade eine seiner vier grossen Kartonboxen öffnen muss, welche er als Gepäck mit sich führt.

Nach ein paar Minuten schlendere ich durch die gigantische, blitzblank glänzende Halle zu meinem Gleis. Mein Billett wird erneut kontrolliert, ausnahmsweise ohne näher auf den fremden Namen mit Umlauten im Pass einzugehen. Und schon geht es mit der Rolltreppe hinunter zum Perron. Dem Gedränge nach scheint der Zug voll zu sein, obwohl etwa alle 10 Minuten ein Schnellzug in Richtung Shanghai losfährt. Aber da die Zugtickets personalisiert sind und die Reisenden nummerierte Sitzplätze haben, ist dies kein Problem.

Im Unterschied zum chronisch überlasteten Flugverkehr (trotz ebenfalls monumentaler und moderner Flugplätze), ist der Zugverkehr den extremen Wetterbedingungen weniger ausgesetzt. Neben Sandstürmen im Frühling, heftigen Unwettern im Sommer und Herbst sowie Schnee und eisigen Winden im Winter, gehört auch der zeitweise extreme Smog zu den Problemen der Flugreisenden. Die Luft kann insbesondere in der Region Beijing so schlecht sein, dass der Flugbetrieb wegen des dichten Smogs eingeschränkt werden muss. Wie zuvor erwähnt ist der Bahnverkehr von all diesen Umwelteinflüssen deutlich weniger betroffen – weshalb die die Züge fast immer auf die Minute genau verkehren; ein entscheidender Vorteil gegenüber dem Flugverkehr. Die schnellste Zugverbindung benötigt für die Strecke von Beijing nach Shanghai nur 4 Stunden und 28 Minuten. Dank des schnelleren Sicherheitschecks sowie kürzerer Wege und Wartezeiten ist man somit ungefähr gleich schnell wie mit dem Flugzeug – und hat fast nie Verspätung! Deswegen ist mein Zug auf dieser wichtigsten Strecke des Landes wohl auch an diesem Samstagmorgen sehr gut ausgelastet.

Gut verpflegt durchs Land

Mit etwas Wehmut denke ich beim Besteigen des aerodynamischen Zuges mit der langen Schnauze an vergangene Zugreisen in den engen chinesischen Schlafwagen zurück, die vor gut einer Dekade die gängige Art zu reisen waren. Auf Bahnfahrten durch das gigantische Reich der Mitte ging es damals mit Reisezeiten von 10, 20 oder auch 30 Stunden natürlich fast zwangsläufig noch einiges gemütlicher zu und her. Das monotone Rattern der Schienen beim Schlafen, die langsam vorbeiziehenden Landschaften und die Gespräche mit neugierigen Mitreisenden liessen diese langen Fahrten am Ende trotzdem wie im Flug vergehen. Die Zeiten ändern sich… Und um ehrlich zu sein, bin ich – trotz dieses kurzen Anflugs von Nostalgie – doch froh, meine Freunde in Shanghai bereits in gut vier Stunden zu treffen.

Bei der Suche nach meinem Sitzplatz frage ich mich, ob gewissen Mitreisenden noch nicht bewusst ist, dass sich die Fahrzeit im Vergleich zu früher mehr als halbiert hat: Viele scheinen mit Essen für eine mehrtätige Reise ausgerüstet zu sein. Von Früchten über sauer eingelegten Hühnerfüssen (kein Klischee, die gibt es wirklich zu kaufen am Bahnhof), Sandwiches und Hamburger, Styroporboxen mit Reis und Gemüse bis zu scharf eingelegtem Tofu wird alles mitgebracht. Am meisten verbreitet sind aber wie bereits vor gut zehn Jahren Instant-Nudelsuppen in allen Geschmacksrichtungen. Da es in jedem Wagen einen Wassertank mit heissem Wasser gibt (vor allem für Tee), lassen sich diese leicht zubereiten und in aller Ruhe schlürfen. Eigentlich gäbe es in den Zügen auch Essen zu kaufen, doch die Reisenden scheinen Mitgebrachtes zu bevorzugen.

Die Zugbegleiterin, welche in ihrer gepflegten Uniform und mit den hochgesteckten Haaren an eine Flight Attendant erinnert, möchte mich rasch zu meinem Platz bringen. Wegen beschränkter Englischkenntnisse, erledigt sie dies mit einem freundlichen «excuse me», gefolgt von Handzeichen. Die weissblauen Züge – das Blau ist übrigens dezent dunkler als das VBZ-Blau – sind bestuhlt wie Flugzeuge. Auch hier bieten die Schnellzüge wegen viel mehr Beinfreiheit gegenüber dem Flugzeug allerdings einen entscheidenden Vorteil. Kaum habe ich es mir bequem gemacht, rauscht der Zug schon los; auf die Minute genau. In allen Wagen gibt es eine Anzeigetafel, auf der man die aktuelle Geschwindigkeit des «China Railway Harmony»-Zuges der Chinesischen Staatsbahn bis zum Schwindelgefühl mitverfolgen kann – oder zumindest bis die Höchstgeschwindigkeit von maximal 350km/h erreicht wird.

Eine äusserst bequeme Art zu Reisen

Dass dieser Text hier endet, und ich nichts über die vorbeifliegende Landschaft zu erzählen habe, liegt allerdings weder daran, dass es mir schwindlig wurde, noch daran, dass doch plötzlich Smog alles wie in Watte gehüllt aussehen liess: Auf meiner morgendlichen Hinfahrt nach Shanghai bin ich kurz nach dem Start eingeschlafen (Stichwort Sitzkomfort wegen Beinfreiheit) und auf der Rückfahrt nach Beijing zwei Tage später war es draussen bereits dunkel.

SRF-Doku: China - Die neue Bahnnation

Zusätzliche Einblicke in die Fahrt mit dem chinesischen Hochgeschwindigkeitszug, bietet die Sendung «Einstein» vom Dezember 2016. Die Doku des Schweizer Radio und Fernsehen geht dabei auch der Frage nach, wie sehr sich China beim ambitionierten Ausbau des Fernverkehrs von Ideen aus der Schweiz inspirieren lässt. «Einstein» | China: Die neue Bahnnation

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