Besser als jede Sightseeing-Tour

Was haben Glöcklein, Mittelfinger und der Zauberer von Oz mit dem Job des Trampiloten zu tun? Das und mehr über die Sonnen- und Schattenseiten seines Berufs hat uns David Babic auf einer Fahrt erzählt.

«Jetzt kommt dann gleich eine S-Kurve. Wenn wir in die zweite Biegung einfahren, gibt es rechts eine wunderschöne Rosenhecke. Wenn du Blüten filmen willst, ist das ein guter Ort.» David Babic kennt jedes Detail der Route. Täglich ist er unterwegs auf einer der 14 Tramlinien Zürichs und hat das Netz längst verinnerlicht. Für sämtliche gewünschten Sujets, die wir für unseren kurzen Film aufnehmen wollen, kennt er einen geeigneten Ort.

«Man beginnt irgendwann, ganz anders durch die Stadt zu fahren. Mit offenen Augen. Ich war früher auch einer von denen, die die ganze Zeit nur am Smartphone hingen. Heute würde ich jedes Mal am liebsten sagen: Schaut doch mal nach draussen! Man entdeckt so viele Kuriositäten: Verrückte Hausfassaden, abstrakte Denkmäler, mittelalterliche Laternen oder Treppen, die ins Nichts führen. Die Stadt verändert sich von Tag zu Tag. Die Leute, die Natur, die Blüten an den Bäumen.»

Der Blick eines Trampiloten ist aufmerksam. Wachsame Augen, die täglich das Geschehen in den Strassen Zürichs beobachten, während sich sein Gefährt durch den Verkehr schlängelt. Genau wie die blau-weissen Trams sind auch ihre Pilotinnen und Piloten Repräsentanten der Stadt. Täglich bringen sie Hundertausende sicher an ihr Ziel und bleiben dabei meist unbemerkt. Je angenehmer die Fahrt, desto weniger Aufmerksamkeit für den Fahrer vorne im Cockpit. Und doch gibt es ab und zu Gesten der Freundlichkeit. Ein Gruss beim Aussteigen oder ein Daumen hoch durch die Fensterscheibe. Die Damen und Herren in den blauen Hemden sind unverzichtbare Rädchen in der Maschinerie, die das Leben in Zürich antreibt. «Unsere Uniform ist eine, die man gerne trägt. Eine, mit der man sich gut identifizieren kann.»

Eisen auf Eisen

Wer genau hinhört, bemerkt, dass das Innere eines Trams erfüllt ist von Melodie. Räder, die über Schienen klappern, ein Fahrtenschreiber, der rhythmisch vor sich hin tickt, ein summender Elektroantrieb beim Beschleunigen, das Klirren der Glocke, Türengerumpel an jeder Haltestelle. Unterlegt wird die kleine Trammusik vom Gemurmel der Fahrgäste, nach Anzahl Mäuler variierend in Tonhöhe und Volumen. Nicht selten werden Passagiere in den ruhigeren Stunden von dieser Melodie davongetragen. Tagträume werden zu Träumen.

Dem Fahrer im Cockpit darf das nicht passieren. «Wir haben ja nicht nur die Verantwortung für die Leute bei uns im Tram, sondern auch für all die Passanten draussen, vor und neben uns. Wir müssen auf alle gleichzeitig achten, dessen muss man sich immer bewusst sein. Das Gefühl, auf all diese Leute zu schauen, ist aber eigentlich ein gutes Gefühl.» Mit Situationen, bei denen es brenzlig wird, werden Babic und seine Kollegen und Kolleginnen jeden Tag konfrontiert. Vorausschauend zu fahren sei deshalb das A und O. «Bei einem Tram ist der Bremsweg extrem lang. Wir fahren Eisen auf Eisen und nicht Gummi auf Asphalt. Deshalb müssen wir permanent wachsam sein. Hinter jedem Baum, Auto oder Tram könnte plötzlich jemand hervorkommen.» Ausweichen geht nicht. Es gibt nur eine Option, und die heisst: rechtzeitig stoppen.

Am chaotischsten ist die Linie Acht. Einst war genau sie Babics Lieblingsroute. «Die Streckenführung ist wunderschön. Dieses Tram ist besser als jeder Sightseeing-Bus. Man fährt über die Hardbrücke vorbei am Primetower, kommt mitten durchs Zentrum, passiert die Langstrasse, überquert dann den Paradeplatz, um Richtung See zu steuern. Wenn dort grade ein Schiff anlegt, sieht das wirklich toll aus.» Seit der Verlängerung über die Hardbrücke habe die Acht aber auch ihre Tücken, betont der erfahrene Trampilot: Oft müsse man sich die Strasse mit den anderen Verkehrsteilnehmern teilen. Deshalb droht gerade zu Stosszeiten die Gefahr, stecken zu bleiben. «Wenn du mit der Acht durch den Feierabendverkehr fährst, trinkst du vorher besser nicht zu viel Wasser. Vor allem um die Bäckeranlage ist es bisweilen echt chaotisch. Für eine Pinkelpause bleibt an der Endhaltestelle oft keine Zeit.» Das einzige Mittel gegen das Chaos sei Ruhe bewahren. «Den Verkehr können wir ohnehin nicht beeinflussen.»

Vom grünen Golf zum blauen Tram

Sowieso ist Babic nachsichtig mit den Autofahrern. Seine berufliche Karriere begann er nämlich als Automechaniker. Wie für viele seiner ehemaligen Berufskollegen war für ihn das Automobil nicht nur Beruf, sondern auch Hobby. Ein grüner Golf war sein erstes Auto. Danach wuchs die Sammlung weiter – auf stolze vier Stück. Seine Leidenschaft galt allerdings von Anfang an nicht per se dem Fahrzeug, sondern vielmehr der Mobilität an sich. Etwas von A nach B zu bewegen, faszinierte ihn. Je grösser dieses Etwas, desto grösser auch die Faszination. So war der Wechsel zum Trampiloten kein überraschender. «Bei beiden Berufen geht es um Mobilität, nur dass man es hier mit mehr Rädern zu tun hat. Ein Tram ist das grösste Fahrzeug, das man in der Stadt bewegen darf.»

Bevor David Babic bei den VBZ anfing, legte er noch einen Zwischenhalt als Autoverkäufer ein. Als Mechaniker hatte ihm vor allem der Kundenkontakt gefehlt. Tramfahren ist für ihn die perfekte Kombination. «Jetzt bin ich mobil und habe trotzdem Kontakt zu anderen Leuten.» Gerade die soziale Komponente überraschte ihn an seinem neuen Beruf. «Früher hatte ich oft das Gefühl, man sei da vorne im Cockpit ein bisschen einsam. Doch das ist überhaupt nicht so. Wenn man das Fenster nach hinten offen hat, bekommt man eine ganze Menge von den Gesprächen der Leute mit, was sehr unterhaltsam sein kann. Von Dramen bis Komödien gibt es da alles. Ausserdem kommen einem ja ständig andere Trams und Busse entgegen. Es macht Freude, wenn dann plötzlich ein guter Kollege im anderen Tram sitzt und einem zuwinkt. Grüssen tun wir uns ja sowieso alle.»

Der Zauberer von Oz

Bei über 1400 Fahrern kann man unmöglich alle kennen. Trotzdem gibt es solche, die aus der Masse herausstechen, denn jeder hat seine eigene Grussart. Dabei sind einige, die es durch die ausgefallene Natur ihres Winkens zu einer Art Prominenz unter den Fahrern gebracht haben. «Es gibt da einen, den nenne ich den Zauberer von Oz, der streckt immer seine Hand so in die Höhe, als ob er dich verzaubern will. Ein anderer hält sich seine Hand an die Stirn und macht mit den Fingern wie so Fransen, die herunterhängen.» Babics eigene Geste erinnert ein wenig an die Bewegung, die man beim Auspressen einer Zitrusfrucht auf einer Zitronenpresse macht. Allerdings mit der Handfläche nach vorne, anstatt nach unten. Es komme oft vor, dass man sich plötzlich irgendwo in der Stadt über den Weg läuft und ein Gesicht wiederkennt, das man sonst nur durch die beiden Frontscheiben zweier Trams gesehen hat. Bei so vielen Berufskolleginnen und -Kollegen sei es fast normal, dass es solche habe, mit denen man sich gut verstehe. «Man findet immer jemanden mit ähnlichen Interessen, nicht selten entstehen sogar Freundschaften.»

Die bekannte Frustrationsgeste

Auch der Umgang mit den Fahrgästen erlebe er positiv, so der 28-Jährige. Natürlich gibt es aber auch Leute, die sich mal ärgern. Als Trampilot ist man dann schnell einmal der Schuldige. Der Klassiker: Das Tram steht noch in der Haltestelle und ist abfahrbereit. Jemand sprintet zu einer Türe, doch die geht nicht mehr auf. «Man sieht schon viele Mittelfinger. Wir sind halt so nahe dran. Diese Leute können uns direkt in die Augen schauen. Das ist der Unterschied zum Zug. Die Lokführer sieht man nicht. Da sagt man auch nicht, ‹ach, dieser Depp hat mich einfach stehen lassen›, sondern ‹ach, ich Depp habe den Zug verpasst.›» Ich verstehe ja, dass einen das aufregt, wenn man sich bemüht, das Tram noch zu erwischen, und dieses abfährt. Aber die Leute müssen ebenfalls verstehen, dass wir an einen Fahrplan gebunden sind und dass im Tram vielleicht Leute sitzen, die pünktlich an den Bahnhof müssen.»

Wie bei jedem Beruf gibt es auch für den Tramfahrer Schattenseiten. Wer täglich im Strassenverkehr unterwegs ist, sieht zwangsläufig immer wieder Verkehrsunfälle. Das muss man ertragen. «Einmal hat mir eine ältere Dame noch freundlich einen schönen Tag gewünscht, ist ausgestiegen und hat gleich vor mir die Strasse überquert. Da fährt einer ungebremst in sie hinein. Das sind Dinge, die man nicht so schnell vergisst.»

Die Verkehrsbetriebe als Familiensache

Trotz solcher Ereignisse überwiegen für Babic die Erinnerungen an positive Erlebnisse im Tram. Aufgewachsen in Oerlikon, fanden seine frühesten davon zwischen der Regensbergbrücke und dem Bad Allenmos statt. «Damals bin ich oft ein bisschen Schwarz gefahren. Das darf ich ja jetzt sagen.» Wenn er heute aus dem Cockpit in den Spiegel schaut und sieht, wie die kleinen Jungs auf dem Glöcklein herumspringen, muss er an diese Zeit denken. «Es ist, als ob ich mir selber, als kleiner Junge zuschauen würde. Für uns war dieses Glöcklein das Grösste!»

Von was für einem Glöcklein er denn spreche? «Du bist nicht in Zürich aufgewachsen, oder?» Für alle anderen Nicht-Zürcher-Kinder: Hinten im Tram 2000 (das ältere Modell) gibt es ein Fusspedal, mit dem sich eine Glocke betätigen lässt. Heute noch. Das ist für den seltenen Fall, dass die Trampiloten rückwärts fahren müssen. «Die Leute erwarten nicht, dass ihnen das Tram plötzlich entgegenkommt, wenn sie es von hinten sehen. Deshalb muss man sie mit einem wiederholten ‚Ding-Ding‘ der Glocke warnen.» Unter dem Böcklein am hinteren Ende des Trams, das in den allermeisten Fällen als Sitzgelegenheit genutzt wird, befindet sich ein Steuerpult für solche Rückwärtsmanöver. Sozusagen ein Tramcockpit in Miniaturformat.

Auch diese Anekdote zeigt die Begeisterung von Babic für seinen Beruf im Allgemeinen und fürs Tram im Konkreten. Und das rührt nicht von ungefähr, es ist quasi «familiär» bedingt – auch sein Vater (und seit ein paar Jahren zusätzlich sein Bruder) arbeitet für die VBZ. «Als ich noch ein kleiner Bub war, sind wir oft mit meinem Vater in der Zentralwerkstatt in Altstetten gewesen. All diese riesigen Fahrzeuge zu sehen, das war schon sehr eindrücklich. Speziell galt das für diesen Lastwagen von meinem Vater, mit dem Korb hinten dran, mit dem man zu den Fahrtleitungen hochkommt, total faszinierend.»

David und sein Bruder vertreten somit die zweite Generation Babic in der blauen Uniform. Und mit seinen Nichten und Neffen stehen bereits die nächsten potenziellen VBZler bereit. Wer weiss, vielleicht findet ja irgendwann eine kleine Babic die Dritte ihren Weg vom Glöcklein ganz hinten im Tram auf den Fahrersitz ganz vorne.

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