«Bitte alle tief durchatmen»

Gewaltfreie Kommunikation, Achtsamkeit, Atemtechniken – was sich wie eine Therapeutenausbildung anhört, soll Kundenberaterinnen und Kundenberatern den Alltag erleichtern. Durch einen bewussten Umgang mit schwierigen Momenten. Das Programm dazu nennt sich «Eiko+».

«Tief in den Bauch einatmen… und wieder ausatmen». Wer sich bei dieser Ansage in einem durchgestylten Yoga-Studio wähnt, irrt. Wir befinden uns vielmehr in den Räumlichkeiten der Verkehrsbetriebe Zürich, wo sich fünf Kundenberater und eine Kundenberaterin fit für ihren Alltag machen.

Was hier vor sich geht, nennt sich «Eiko+». «Eiko» ist eine Abkürzung und steht für «Eigensicherung durch Kommunikation». Der «Groove» fernöstlicher und psychologischer Lehren ist trotzdem nicht wegzudiskutieren: Am von uns besuchten «Eiko»-Ausbildungstag steht zunächst das Praktizieren der Gewaltfreien Kommunikation auf der Traktandenliste, dem von Marshall B. Rosenberg entwickelten Kommunikationsmodell, das aus Coaching und Psychotherapie nicht mehr wegzudenken ist.

Rosenberg setzte – sehr vereinfacht und salopp formuliert – vor allem auf Ich-Botschaften, empathisches Zuhören und «Paraphrasieren». Giraffen- statt Wolfssprache, wie es der Begründer nennt. Es scheint zu wirken: Statt einem kurzen «Ihr sind z spat!», werden einige, um wenige Minuten später eintreffende Teilnehmer von einem Kollegen mit einem höflichen, aber unmissverständlichen «Es ist mir wichtig, pünktlich zu beginnen, und deswegen würde ich mir wünschen, dass ihr pünktlich seid» empfangen. Im Anschluss an diesen Part wird es mit einer Lektion in «Progressiver Muskelrelaxation» und fernöstlichen Selbstbehauptungstechniken weitergehen. Doch dazu später mehr.

Ich-Botschaften und eine bewusste Körperhaltung

Wozu ist das nötig? Bilden die VBZ ihre Mitarbeitenden zu Gesprächs-Psychotherapeuten aus? Jasko Beganovic, Gruppenleiter im Ereignismanagement mit zwölf Jahren Erfahrung als Kundenberater, erklärt: «Die Sicherheitslage verändert sich. Das ist ein gesellschaftliches Problem, welches nicht nur die ÖV-Landschaft zu spüren bekommt. Deswegen haben die Verkehrsbetriebe Zürich 2014, in enger Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei Zürich, Eiko eingeführt».

Der Anspruch der VBZ an dieses Programm ist zunächst einmal jener, eine Situation aufmerksam und frühzeitig einschätzen zu können. Gerade auch bei Billettkontrollen, die eine der Hauptaufgaben eines Kundenberaters darstellen. «Wir sind Gastgeber», erklärt Beganovic, «aber wenn ein Fahrgast ohne gültiges Ticket angetroffen wird, löst das bei ihm Emotionen aus». Dann sei es wichtig, adäquat interagieren zu können – mit Ich-Botschaften, aber auch mit einer bewussten Körperhaltung.

«Wir wollen die Leute nicht belehren, sondern fördern und weiterbringen. Nur so hat das Aussicht auf Erfolg»

Insgesamt besteht das Eiko-Modell aus drei Stufen: Die Vorphase gilt als eine Art «mentales Judo». Dabei machen sich die Mitarbeitenden vor dem Einsatz bewusst, was für äussere Umstände den Tag begleiten könnten. Kurz vor den Lohnzahlungen etwa sind manche Kunden vielleicht etwas nervöser, weil das Geld allmählich knapp wird. Ein Problem kann bei sensiblen Menschen auch der Vollmond darstellen. Solche Einflüsse kennen die Mitarbeitenden aus ihrer täglichen Erfahrung. In der zweiten, «Während» genannten Phase, geht es darum, über alle möglichen Situationen hinweg in einem konstruktiven Dialog mit dem Gegenüber zu bleiben. Durch ein bewusst deeskalierendes Auftreten, aber auch durch die Möglichkeit, sich zu schützen. In der dritten Phase geht es um die Reflexion des Erlebten und die Nachbesprechung im Team.

Ein Plus: das «Train the Trainer»-Konzept»

Das dreistufige Modell wurde zunächst als Teil der alljährlichen Weiterbildung im Frontalunterricht in Kombination mit praktischen Ausbildungssequenzen vermittelt. «Man muss kein Psychologe sein, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass so etwas einmal im Jahr nicht reicht», meint Beganovic kritisch. Deswegen habe man in den vergangenen zwei Jahren damit angefangen, im Austausch mit den Blaulichtorganisationen zu überlegen, wie man die Inhalte durch ein «Train the Trainer»-Konzept direkt in den Alltag einbringen könnte. Nicht als Trichterprinzip, von oben nach unten aufgezwungen, sondern als Wissensvermittlung unter Kollegen «on the job», also durch eine Begleitung während der Arbeit. Weg vom klassischen «Eiko», hin zum «Eiko+» – eine Pionierleistung, die in dieser Art offenbar einmalig ist im öffentlichen Verkehr der Schweiz. Beganovics Begeisterung für dieses Modell ist deutlich spürbar: «Wir wollen die Leute nicht belehren, sondern fördern und weiterbringen. Nur so hat das Aussicht auf Erfolg».

Der Enthusiasmus ist auch auf die Freiwilligen übergegangen, die sich nun zum Trainer ausbilden lassen. Hierzu wurden drei Profis engagiert, nämlich Reto Würgler, Geschäftsführer von i-pro, Erik Golowin, seines Zeichens Kommunikationstrainer und Kampfkunstlehrer, und Mireille Gugolz, Trainerin für Embodiment und Körpersprache. Das Trio vermittelt ein ganzheitliches Verhaltenstraining. Natürlich sind die Kundenberaterinnen und Kundenberater der VBZ keine zen-buddhistischen Mönche und sollen auch keine werden; sie bräuchten mitunter aber deren Gelassenheit, besonders dann, wenn ihr Gegenüber diese komplett verloren hat.

Erik Golowin, Reto Würgler und Mireille Gugolz sorgen für Balance im beruflichen Alltag. (Bild: VBZ)

Wieder ins Fliessen kommen

«Es gibt zwei verschiedene Arten, auf Stress zu reagieren», erklärt Golowin, «die einen werden nervös, die anderen apathisch». Solche psychischen Verspannungszustände würden auf den Körper wirken, meint er weiter, aber auch das Umgekehrte sei der Fall. «Embodiment» nennt die Psychologie diese Wechselwirkung zwischen Körper und Geist. Um diese innere Spannung körperlich abzubauen, bieten sich drei Zugänge an: Über die Atmung, die Körperhaltung und die Entspannung. «Ab einem bestimmten Grad von Nervosität ist es fast nicht mehr möglich, sich einfach so zu entspannen. Dann helfen erst mal kräftige Übungen, also in die Spannung hineinzugehen oder ganz kräftig zu atmen», erläutert der Redaktor verschiedener (Kampf-)Sportzeitschriften und Co-Autor der Biographie des einstigen Kickbox-Weltmeisters Andy Hug.

«Woran erkennt ihr, dass ihr sehr nervös seid?», fragt Golowin jetzt in die Runde. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Einer bekommt Rückenschmerzen, einem anderen geht der Atem aus. In der Diskussion wird bald klar, worauf der Trainer hinaus will: Emotionen können blockieren, und «je mehr man sich anstrengen will, desto mehr verspannt man sich. Das Ziel ist, diesen Kreislauf zu durchbrechen, wieder ins Fliessen zu kommen».

Und so übt sich die Gruppe also in progressiver Muskelrelaxation, die Methode, bei der die einzelnen Muskelpartien erst an- und schliesslich umso mehr entspannt werden. Auch wenn – wie Golowin betont – keiner spezifischen Methode, sondern lediglich gewissen Prinzipien nachgegangen werde: Immer mit dem Ziel, sich auch in Stressmomenten seiner emotionalen Zustände bewusst zu werden, sich zu öffnen und wieder in einen ausgeglichenen Atemzyklus hineinzukommen. Dazu gehört letztlich auch ein persönliches Eigenschutztraining mit Abwehrtechniken. Dieses verbessert nicht nur die koordinative Fähigkeit – in den engen Arbeitsverhältnissen in Tram und Bus besonders wichtig –, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lernen, frühzeitig «Stopp» zu sagen. Oder sich im Notfall gegen einen plötzlichen Angriff zu wehren, wenn alle Giraffensprache versagt hat. In Anerkennung der Lebenswirklichkeit verfügt das Konzept bewusst auch über eine robuste Komponente. Und schlussendlich steigert der sportliche Anteil von «Eiko+» auch die Resilienz, sprich die emotionale Belastbarkeit eines Menschen. Was die alten Römer mit «Mens sana in corpore sano» umschrieben, betont Karatemeister Golowin heutzutage mit der Aussage: «Für die psychische Widerstandsfähigkeit einer Person ist es von Vorteil, wenn sie sich in einer guten physischen Verfassung befindet.»

Draussen beginnt es schon zu dunkeln, unsere sechs Freiwilligen greifen jetzt befreit lachend und mit leicht geröteten Wangen nach ihren Handtüchern. Sie sind nicht nur durch und durch entspannt, sondern auch gestärkt: mental, körperlich und als Team.

*Über den Alltag der Kundenberaterinnen und Kundenberater haben wir kürzlich hier berichtet.

Erik Golowin, Reto Würgler und Mireille Gugolz sorgen für Balance im beruflichen Alltag. (Bild: VBZ)

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