«Blackout» am Nordpol

Märli-Tram

«Kein Zutritt für Erwachsene»: Wir erzählen eine der Weihnachts-Geschichten im Märli-Tram exklusiv für die Grossen nach.

Immer im Dezember schmuggelt sich ein Gefährt unter die blau-weissen Trams, das entfernt an rot-gülden blinkende Burgzinnen erinnert. Dessen hölzerne Türen öffnen sich nur für unsere Kleinsten. Erwachsene dürfen nicht rein – für sie bleibt das Märli-Tram ein ebenso grosses Mysterium, wie das Koch-Areal für manch einen Politiker-Nachwuchs.

Wir lüften nun das Geheimnis des zinnoberroten Oldtimers auch für die Grossen. Lehnen Sie sich zurück und stellen Sie sich vor, wie Sie in den königsblauen Bänken sanft erzittern, wenn zum Start ein Ruckeln durch das alte Tram geht. Zwei Engel bitten Sie, die Augen zu schliessen. Sie erzählen vom Sternenstaub, der sich auf der Erde in normalen Staub verwandelt. Was Sie als Kitzeln in der Nase verspüren, ist aber keine Hausstaub-Allergie. Es sind die Engel, die Ihr Gesicht mit einer Feder necken. Nun beginnt das, was dem Tram seinen Namen gibt; das Märli. Das dürfen wir Ihnen auf gar keinen Fall erzählen. Wie gesagt, es ist ja nur für Kinder. Aber ruhig Blut: Exklusiv für Sie zaubern wir heute eine Märli-Version für Erwachsene aus dem Jutesack.

 

Anton und das Weihnachts-Chaos

Anton war ein Hilfsengel. Ein kleiner, unbedeutender Hilfsengel. Wobei zumindest vom Uetliberg-Turm aus betrachtet so manches klein und unbedeutend ist, ja sogar das neue Zürcher Tram. Item. Der stille Anton gehörte zu den Naturellen, deren Brillanz im Verborgenen blühte. Man liess ihn in Fronarbeit Weihnachtsgeschenke einpacken, das ganze Jahr über und exakt nach der Wunschliste der Menschen. Falls Sie sich also bis anhin der romantischen Vorstellung hingegeben hatten, als Engel springe man Trampolin auf Wolke 7 – tja, falsch gedacht. Das himmlische Flugpersonal groundet bisweilen mit Fliessband-Büez am Nordpol.

Jedenfalls war Engel Anton heimlich auch ein kleiner IT-Crack. Die Wunschliste, deren Zusammenstellung in seiner Obhut lag, recherchierte er mit dem Such-Algorithmus von Google. Er zog es aber vor, mit diesem Können «anonymous» zu bleiben: Wer zuviel weiss, sollte nur reden, wenn er in Russland oder am Nordpol bleiben will – unabhängig davon, ob er das Wort «Snow» schon im Namen trägt oder nicht. Ausserdem hatten es der Samichlaus und das Christkind nicht so mit dem neumödischen Zeugs – sie dachten, die Leute würden noch immer Wunschzettel ausfüllen und in eine Urne werfen. So wie es die Leute in der Schweiz machen, wenn sie etwas Neues wollen – wobei da noch lange nicht jeder bekommt, was er sich wünscht.

Während des  Jahres 2016 hatte Anton genau studiert, was die Leute so googeln: Nebst seinen Bärten interessierte sich das Schweizer Volk für Dinge, die sich selbst in einem Märchen für Erwachsene nicht geziemten und Google derart in Verlegenheit brachten, dass der Konzern in seiner Hitliste 2016 ganz einfach behauptete, man habe an der EM mit Pokémon Go nach einer gewissen Tamy Glauser gesucht.

2000-Watt-Gesellschaft im Himmel

Kaum stapelten sich endlich alle Geschenke aufeinander wie die Container des «Freitag»-Gebäudes, herrschte im Himmel helle Aufregung. Besser gesagt: dunkle Aufregung. Auf einen Schlag nämlich legte sich eine Finsternis über die Welt, so düster wie die totale Sonnenfinsternis im 2081: Stromausfall im EWZ. Dann hörte man ein Geschepper, gefolgt von wüstem Fluchen: der Samichlaus. Er war im Dunkeln über einen Saugroboter gestolpert und hatte sich das Bein gebrochen. Eine Katastrophe! Das kam der Himmelsmannschaft in etwa so gelegen wie ein Muskelkrampf während einer Mannequin-Challenge. Das Christkind nämlich lag seit drei Tagen mit Vogelgrippe im Bett, und der Chefengel hatte sich beim aufgeregten Hin- und Herfliegen einen Flügelschaden zugezogen und erinnerte nun an ein Duvet der Bettwarenfabrik Wädenswil. Wer sollte jetzt die Geschenke ausliefern? Zu allem Elend hatten die Rentiere zu viele Fliegenpilze verspeist und zickten herum.

Was nun? Er hatte keine Wahl: Anton musste selber an die Säcke, pardon, die Pakete. Dummerweise war während des Stromausfalls auch die Liste mit den Geschenken flöten gegangen. Wie er das begründen wollte, da hatte er in etwa soviel Ahnung wie gewisse Fussballer Wörter im Wortschatz. Und so musste er aus seinem Gedächtnis hervorgrübeln, wer was bekommen sollte.

Also riss er eins der dezent metallic-blau schimmernden Pakete auf, und zerrte eine Drohne hervor. «Auf jetzt», jubilierte er und kletterte fröhlich auf das Gerät, «auf zum Fest der Liebe». Die Weihnachtsgeschenke hingen in einem an der Drohne befestigten Netz und schaukelten hin und her wie das Euter einer steppenden Kuh. Er versuchte sich zu erinnern, was in jedem von ihnen steckte. Und dann verteilte er sie – nach einem ähnlichen System wie die Zuschauer ihre Punkte am «Concours d’Eurovision», nämlich rein nach Instinkt und Gefühl.

Eine schöne Bescherung

Der Weihnachtsmorgen dämmerte schon, als Anton unter dem Getöse der Drohnen-Propeller  wieder im ewigen Eis landete. Er klopfte an. «Komm nur rein», knurrte der Türengel und klimperte mit dem Schlüsselbund. Alle wichtigen Himmelsbewohner sassen vor der Videoüberwachung in ihrer Dependance am Nordpol und sahen sich die Bescherung im Wohnzimmer einer der betroffenen Familien, den Eisengrubers, an.

Luca hatte sich auf sein VR-Set gefreut und fand statt einer Virtual-Reality-Brille ein veganes Rezeptbuch unter dem Weihnachtsbaum. Statt seinem HTC-Handy grübelte Papa Markus eine Dose THC-Candy aus dem Papier. Lailas grösster Wunsch war, ihre Bachelor-Arbeit wäre bald fertig, und wusste wenig mit dem Kickboxer anzufangen, der nun verwirrt im Wohnzimmer stand. Mama Anneliese ärgerte sich über das Putzmittel mit der Aufschrift «Fatclean» – sie wollte einen Flatscreen. Und statt einem Video bekam Oma Elsa eine Flasche Wein und ein Deo, wobei sie mit beidem auch zufrieden war.

«Hm, hm», brummelte der Samichlaus in seinen Hipster-Bart. Er hatte sein eingegipstes Bein auf einen kleinen Schneemann gelegt: «Alter, was für ein big fail!». «Hatschi» machte das Christkind und schnäuzte sich die Nase. «Ich kann mir das gar nicht erklären», klagte es. Der Chefengel guckte grimmig, und Anton suchte  Schutz hinter dem Thron des Samichlaus. «Was machst du da?» wunderte sich der Chlaus und fischte Anton hinter dem Sessel hervor. «Ehm, ich spiele ‹Game of Thrones›», stammelte der kleine Engel und baumelte zappelnd in der Hand des Samichlaus hin und her wie eine Christbaumkugel im Schneesturm.

In diesem Moment stieg die Familie Eisengruber mitsamt dem Kickboxer ins Tram. Sie fuhren in die Stadt, um ihre Geschenke zu tauschen. Vielen Familien war es genauso wie den Eisengrubers ergangen. Deshalb hatte ein Herr namens Ron Orp spontan zum Rudelwichteln am Bellevue aufgerufen – und Tausende waren seinem Aufruf gefolgt. «Ein herrliches Fest», frohlockte Oma Elsa und hob ihren Glühweinbecher. «Du hast Recht», antwortete Papa Eisengruber und prostete Oma Elsa mit einer Tasse Mate-Tee zu. «Weihnachten ist und bleibt eben doch die wahre Party von Love, Peace and Happiness».

«Sieh an», staunte das Christkind. «Jetzt ist ja doch alles flott über die Bühne gegangen». «Dabei war die ganze Bescherung ja eigentlich eine Panne», gab Anton zu. «Ja, wie an der Eröffnung des Gotthard – und trotzdem hat alles ein gutes Ende genommen. Das war sehr schön», freute sich der Samichlaus, und strich Anton die zerzausten Flügel glatt. «Ein richtiges Fest der Liebe. Und voller Überraschungen. So machen wir es jetzt immer.»

*Die Geschichte ist dem Märli «Engel Anton rettet Weihnachten» von Dorothee Haentjes nachempfunden.  Jede Ähnlichkeit mit realen Vorkommnissen ist rein zufällig. Personen und Handlung sind frei erfunden.

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