Daheim im Bus

Wenn einer etwas teilt, so nimmt ein anderer Anteil daran. Oben beim Albisgütli, unscheinbar auf einem Kiesplatz, steht ein Bus. Dort wird geteilt, was der Mensch im Namen trägt und dennoch oft ein bisschen verloren geht: Menschlichkeit. Monika Christen öffnete für uns die Türen des Fahrzeugs und gab uns einen Einblick in ihre Berufung: Pfarrer Siebers Pfuusbus.

Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Noch herrscht Kälte im Vorzelt, das sich an den Bus klammert, um diesem mehr Raum zu geben. In einer Ecke stapeln sich Matratzen, die bald einen federnden Teppich am Boden bilden werden. Gleich daneben ein Holzkreuz, schlicht, aus naturbelassenen Ästen geformt. Im Heck des Busses selber – ein grosser Bruder gängiger Wohnwagen – liegen Kojen übereinander; man fühlt sich ins Schullager zurückversetzt.

Um 19 Uhr geht’s los, jetzt betreten die ersten Schutzsuchenden den Bus, um ihr Verlangen nach Wärme zu stillen. Zwei ehrenamtliche Hüttenwarte sind für die Ankömmlinge da. Die beiden werden später – ab 23.30 Uhr, wenn Nachtruhe herrscht – auf einer Pritsche nächtigen, dort, wo jetzt noch ein kleiner Tisch steht. In der Küche, so klein wie ein Bauernschrank, zaubert das Kochteam mit wenigen Töpfen das Essen für viele Menschen herbei; heute stehen Tortellini auf dem Speiseplan.

Meist sind es etwas mehr als 30 Obdachlose, die hier auch übernachten. Manche finden selber her, andere werden gesucht, von Patrouillen auf der Gasse. Wer nicht mitgehen will – das kommt vor, Einzelgänger ertragen die Lebhaftigkeit im Pfuusbus schlecht – erhält zumindest Linderung. Die Gassenarbeiter haben Schlafsäcke, Sandwiches und warme Socken dabei. Abgewiesen wird niemand – notfalls rücken alle noch etwas enger zusammen. Wer den Pfuusbus trotzdem mal verlassen muss, weil er gegen die Hausregeln verstossen hat (Suchtmittel und Gewalt werden nicht toleriert), geht nie durch die Türe, ohne dass er wenigstens einen Schlafsack mitnimmt.

Aufrecht und unverblümt

Was die Menschen eint, sind nicht ihre Lebenswege. Vom 22- bis zum 81-jährigen, vom ehemaligen Banker, den die Sucht auf die Strasse katapultiert hat, bis hin zu jenen, die fliehen mussten vor Übergriffen der Familie. Nein, es ist das Alleinsein, das diese Menschen verbindet. Sie alle fielen durch ein Netz, das nicht trägt, sondern wie ein Basketballkorb zu Boden knallen lässt, was durch ihn hindurch geht. Der Pfuusbus ist der Faden, der dieses Loch zunäht. Warum? Weil die Menschen hier sein dürfen, wer und wie sie sind. Kompromisslos. Das Klima ist «fadegrad». Die Schicksalsgeprüften spüren jede noch so gut gemeinte Manipulation. Da gibt’s schon mal ein «Weisch was, mit dim soziale Touch chasch grad höre». Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie an den Leuten herumgezerrt wurde, ehe sie auf der Strasse endeten. Auch das elastischste Gummiband kann irgendwann spröde und brüchig werden.

Geknickt seien sie aber nicht, sagt Monika Christen, im Gegenteil, sie würden oft selbstbewusst wirken, auf eine gute Art. Christen, Leiterin im Pfuusbus, ist eine ruhig und bodenständig wirkende Frau, die einst aus der Bankenwelt kam und im Pfuusbus einen Sinn fand. Sie erzählt weiter, dass die Würde der Menschen bestehen bliebe. Dass die Obdachlosen ihre Geschichte niemanden vor die Füsse werfen würden. Freundschaften entstehen zwar schnell, doch braucht es viel Vertrauen, ehe einer von seinem Schicksal erzählt, über das zu sprechen schwer fällt. Die Randständigen wissen, wer sie sind und einst waren. Es ist eben auch diese Würde, die ihren Weg bestimmte. In der Schweiz nämlich muss niemand auf der Gasse leben, aber der Gang zum Sozialamt ist schambesetzt. So meinte einer, der Job und in der Folge sein Heim verlor: «Noch nie musste jemand aus unserer Familie zum Sozialamt. Das ist eine Schande». Also kämpft man sich durch, irgendwie.

Monika Christen, Leiterin des Pfuusbus. (Bild: Natascha Klinger)

Jeder trägt seinen Teil bei

Nebst dem Platz zum Schlafen, dem Essen auf dem Teller, ein bisschen Kleidung und einer Dusche sind es noch andere Dinge, die hier ausschlaggebend sind: Zum Beispiel eine Umarmung, die von Herzen kommt, Zugehörigkeit und Akzeptanz. Für die Menschen auf der Strasse ist der Pfuusbus ein Daheim. Und wir «Anderen» sind ein Teil davon. Pfarrer Siebers Werk lebt von Spenden, die auch aus Naturalien bestehen können. Seit kurzem bietet das Zuhause auf Rädern zusätzlich am Sonntag tagsüber Halt: Morgens nämlich, wenn der Tag seine harten Spuren noch nicht hinterlassen hat, sind diese oft introvertierten Menschen zugänglicher. Dann gibt es einen Brunch, man spielt und malt zusammen.

Nicht nur die Gäste, auch die Helfenden fühlen sich als Teil der Familie: «Die Vorfreude auf die Pfuusbus-Saison ist gross», sagt Christen mit einem Leuchten in den Augen, das ihre Worte unterstreicht. Die Notleidenden nehmen nicht nur, sie geben auch etwas. Zwischenmenschlich und mit hochgekrempelten Ärmeln – viele helfen tatkräftig mit, wenn es gilt aufzuräumen, Kübel zu leeren, abzuwaschen. «Dankbarkeit überwiegt, aber ja, klar, natürlich kochen auch mal die Gemüter hoch», räumt Christen ein. Geraten zwei aneinander, muss man dennoch keine Angst haben, auch nicht als Frau: «Wenn’s brenzlig werden sollte, steht die Gemeinde auf und stellt sich hinter einen, wie eine Bergkette.»

Der Bus ist nur ein Teil im Netz

Und was ist nach der Zeit im Pfuusbus? Die Anlaufstelle ist keine Insellösung, sondern ein Netzwerk. Andere Institutionen der Pfarrer-Sieber-Stiftung wie die Suchthilfe im «Ur-Dörfli», der «Sune-Egge» als Fachspital für Sozialmedizin und Abhängigkeitserkrankungen, das Rehabilitationszentrum «Sunedörfli» oder die Wohnsiedlung «Brothuuse» ebnen den Weg zurück ins «normale» Leben, bieten Integration. Für jene, die wollen. Gezwungen wird niemand. Das kalte Leben draussen zehrt aus: Oft sind die Menschen zu müde, haben sich arrangiert und ein Stück weit aufgegeben.

Der Pfuusbus deckt, was bei Maslow am Fuss der Pyramide steht: Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wärme. Letztlich wird dort aber viel mehr getauscht. Etwas, das in unserer Gesellschaft wie Wasser in der Wüste wirkt. Wertschätzung jenseits glänzender Fassaden, ungeachtet von Status, Redekunst oder Optik. In dieser Hinsicht sind Helfende und Gäste nicht weit voneinander entfernt. Die einen haben ein festes, zweites Zuhause, die anderen nicht. Was hier in erster Linie geteilt wird, ist ungeschliffene Echtheit.

Wollen Sie mehr erfahren über das Teilen? Hier gehts zum Dossier unseres Fokusthemas.

Seit 2002: Der Pfuusbus

Der Pfuusbus wurde bereits 2002 von Pfarrer Ernst Sieber ins Leben gerufen. Seit dieser Zeit ist das Fahrzeug, ein 17m langer Sattelschlepper, beim Albisgütli zu finden. Der Bus selber bietet zwölf Schlafplätze, im Vorzelt ist Platz für rund 25 Menschen. Notleidende ab 18 Jahren finden dort Unterschlupf, und zwar in der kalten Saison von Mitte November bis Mitte April, täglich von 19.00 Uhr bis 09.00 Uhr. Im Jahr 2014 zählte der Bus 3160 Übernachtungen von 347 verschiedenen Personen. Das Team besteht aus zwei bis drei fest angestellten Mitarbeitenden und vier freiwilligen Helfern. Die Mitarbeitenden engagieren sich in verschiedenen Institutionen der Pfarrer-Sieber-Stiftung. Im Pfuusbus selbst sind jeweils vier Personen während der Essenszeit und zwei Hüttenwarte während der ganzen Nacht im Einsatz. Weiter sind zwei Personen dreimal in der Woche abends auf der Strasse unterwegs, um dort Hilfe anzubieten.Das Konzept des Pfuusbus bleibt in Bewegung: So werden nicht nur Schlafgelegenheiten, Kleidung und Essen geboten, sondern sonntags neu auch eine Gemeinschaft mit Brunch, Spiel- und Gestaltungsmöglichkeiten. In der Aktion «Schaff es Dihei» sind alle Spenden willkommen: 10 Franken reichen für ein Essen, 60 Franken für Schlaf, Nahrung und Betreuung. Auch Naturalien werden angenommen: Mehr Informationen gibt es auf pfuusbus.ch.

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