«Der Stadtverkehr ist ein Mannschaftssport»

Manchmal kann es ganz schön brenzlig werden im Stadtverkehr. Trampilot Erwin Zgraggen zum Thema Tramvortritt, Bremsweg, und wie partnerschaftliches Verhalten Gefahrenquellen entschärft.

Titelfoto: Rico Rosenberger

Mein Herz pumpt mir das Blut ins Gesicht, in kurzen, schnellen Stössen. Ja, ich hab das Tram gesehen. War noch ewig Zeit. Schnell mit dem Velo übers Gleis. Konnt ich riechen, dass sich etwas im Radkranz verheddert, wie ich aufs Trottoir aufsetzen will? Nein. Wie ein bockiger Esel blockiert das Rad. Die Cobra näherte sich bedrohlich, dazu bimmelte der Typ im Führerstand wie ein Idiot. «Brems doch!!!», schiesst es mir durch den Kopf, er geht auf die Klötze, während ich gerade noch beiseite springen kann.

Das ist die dramatische Sicht der Passantin oder des Passanten. Wie aber ergeht es eigentlich dem anderen betroffenen Akteur in einer solchen Situation? Wir haben bei Erwin Zgraggen, der seit 16 Jahren für die VBZ als Trampilot arbeitet, nachgefragt.

Erwin Zgraggen, haben Sie solche Situationen auch schon erlebt?

Oh ja, neulich hatte ich ein ähnliches Erlebnis an der Stockerstrasse. Da gibt es ja diese hohen Haltekanten. Eine Frau überquerte gerade das Gleis auf einem Velo, an welchem ein Kinder-Anhänger hing. Sie sah mich und geriet in Panik. Ich bin sehr langsam gefahren, jedoch war sie in einer derartigen Aufruhr, dass sie am Randstein hängen blieb. Der Anhänger ist schliesslich gekippt, dabei wurde das Kind aus dem Wagen katapultiert. Zum Glück hat es sich nicht verletzt.

Was geht Ihnen in so einem Moment durch den Kopf?

Ich konzentriere mich auf die Situation und werte das Verhalten der anderen nicht. Wir sind Menschen, und Menschen machen Fehler. Schlussendlich sind wir alle Partner im Verkehr. Das ist wie ein Mannschaftssport. Wenn alle diesen Gedanken verinnerlichen würden, gäbe es weniger Konflikte.

Das bedeutet, dass Sie, um solche Situationen zu vermeiden, potenzielle Gefahren erahnen und mögliche Vorkommnisse adaptieren müssen?

Genau. Gewisse Autofahrer achten beispielsweise nur darauf, ob es noch reicht, vor dem Tram durchzufahren. Dass vor ihnen noch ein anderer Wagen steht und sie deshalb gar nicht weiterkommen, sehen sie nicht. Der Trampilot aber muss sehen, was der Autofahrer nicht wahrnimmt.

Wie oft passiert es, dass die Leute noch schnell vorne durch wollen?

Eigentlich permanent. Man muss auf alles gefasst sein. Einmal fuhr ich mit dem Neuner aus dem Tramtunnel Schwamendingen und sah mich aus dem Nichts mit einem Jugendlichen auf dem Gleis konfrontiert, an der Haltestelle über die Kupplung zwischen Zugwagen und Anhänger geklettert war. Sogar an der Bahnhofstrasse erlebt man derlei des öfteren. Auf manchen Strecken führen die Radwege von der Strasse aufs Trottoir, weil der Platz für ein Velo neben dem Tram zu knapp ist. Da erkennt man oft erst in letzter Sekunde, ob der Velofahrer beschliesst, nicht auf dem Radweg, sondern auf der Strasse weiterzufahren – und so dann direkt in die Spur des Trams gerät.

Hat sich der erwähnte Mannschaftssport, also das Miteinander aller Verkehrsteilnehmer, in den letzten Jahren verändert?

Naja, es gab schon immer Leute, die unachtsam waren, aber in den letzten Jahren hat es massiv zugenommen. Viele sind abgelenkt, starren aufs Handy, sausen mit dem Trottinett noch schnell vor dem Tram durch. Zudem sind die Fussgänger heute schneller unterwegs, generell wirken die Leute gestresster als früher.

Erwin Zgraggen, seit 16 Jahren Trampilot bei den VBZ. (Foto: VBZ)

Neulich vernahm ich die absurde Bemerkung: «Die Trampiloten steuern absichtlich auf die Leute zu.»

Wie bitte? Nun gut, gewisse Passantinnen und Passanten wissen eben anscheinend  immer noch nicht, dass das Tram grundsätzlich immer Vortritt hat. So ist ihnen auch nicht bewusst, dass der Grund dafür im drei Mal so langen Bremsweg liegt. Sie erwarten, dass das Tram stoppt, so wie ein Auto. Die Aussage, wonach Trampiloten absichtlich auf die Leute zufahren, ist aber natürlich wirklich absurd.

Welche Situationen sind besonders heikel?

Das beginnt schon beim Losfahren. Nachdem der Blinker gestellt wurde, muss immer ein Blick nach links erfolgen. Von links herbeieilende Fahrgäste sehen nämlich nicht, wenn das Tram abfährt. Das ist gefährlich. Auch beim Tram gibt es einen toten Winkel. Dann betätigt der Chauffeur die Fussglocke und fährt langsam los. Das Warnsignal hilft aber nichts, wenn jemand laute Musik im Ohr hat. Wichtig ist der Blickkontakt, wenn er sich denn überhaupt ergibt. Auch die ersten paar Meter nach der Anfahrt sind nicht ungefährlich.

Nach der Anfahrt fährt das Tram doch eher langsam – weshalb ist da dennoch ein Problem?

Bei der Anfahrt ist das Tram so mit 12 km/h unterwegs. Wird bei dieser Geschwindigkeit gebremst, geht ein heftiger Ruck durch das Fahrzeug.  Bei 20 km/h hat das Fahrzeug einen Bremsweg von 10 Metern. Fährt das Tram mit 60 km/h, bremst es zwar lange, aber entsprechend sanfter. Wie die Autofahrer auch, fahren wir Trampiloten auf Sicht und müssen innert der überblickbaren Strecke anhalten können. Der Bremsweg ist aber drei Mal so lang.

Radfahrer, die bei Rot die Kreuzung überqueren, Fussgänger, die nichts hören… Nervt das?

Es hilft nicht, sich zu nerven. Diese Situationen gehören zum Job. Natürlich gibt es auch impulsivere Trampiloten. Wie gesagt, wir sind alle Menschen. Man muss jede Sekunde zu 100 Prozent konzentriert sein. Und dann zeigt dir vielleicht noch jemand den Mittelfinger, nur weil du deinen Job richtig machst, das ist nicht lustig. Aber ich versuche, solche Gesten zu ignorieren.

Das Tram «fährt vor der Nase ab», den Zug jedoch «hat man verpasst».

Weshalb sind da überhaupt so viele Emotionen drin?

Im Stadtverkehr sind sich Bus- und Tramchauffeure und Passanten wirklich sehr nah. Das bringt eine gewisse Erwartungshaltung, die man auch dem Sprachgebrauch entnehmen kann: Das Tram «fährt vor der Nase ab», den Zug jedoch «hat man verpasst».

Und wenn die Tramchauffeure genervt sind, bimmeln sie mit der Tramglocke?

(schüttelt den Kopf) Ich rassle nur, wenn ich sehe, dass die Leute eine Möglichkeit haben, das Gleis zu verlassen.

Welches war Ihr schlimmstes Erlebnis?

Ich hatte eine Kollision im 2008 am General-Guisan-Quai, nach der Haltestelle «Rentenanstalt» Richtung Bellevue. Da dürfen die Autofahrer ja nicht links abbiegen, was dann ein schwarzer Audi trotzdem getan hat – und zwar aus dem Nichts. Ich habe sofort einen Notstopp eingelegt. Da hatte ich echt das Herz in der Hose. Zum Glück gab es nur einen Blechschaden.

Alles Gesagte zusammengefasst: Wie also lautet Ihr Patentrezept für ein gut funktionierendes Miteinander?

Wie gesagt, wir sind alle Partner im Verkehr und tragen eine gewisse Verantwortung. Auch ein Gespräch kann vieles richten, wenn es sich ergibt. Neulich kam ein Fahrgast zu mir, der sich über den vorderen Trampiloten geärgert hatte. Er wollte Dampf ablassen, schliesslich resultierte daraus aber ein gutes Gespräch. Am Ende zählt, dass man auf der Strasse gegenseitig Verständnis für einander aufbringen kann.

Drei Mal so lang – der Bremsweg des Trams

Das Tram hat Vortritt. Auch im Haltestellenbereich und auf dem Fussgängerstreifen! Warum?Rechtlich gesehen ist das Tram eine Eisenbahn, wichtiger aber ist der praktische Aspekt:Bei 20 km/h bremst das Auto nach 3 Metern. Das Tram stoppt nach 10 Metern.Bei 40 km/h bremst das Auto nach 10 Metern. Das Tram stoppt nach 30 Metern.Das ergibt einen drei Mal so langen Bremsweg. Die Trampilotin oder der Trampilot muss dabei nicht nur die Menschen auf der Strasse schützen, sondern auch jene im Inneren des Fahrzeugs.   Stadtpolizei Zürich, Verkehrsunfallprävention Kampagne «Sicher unterwegs»

 

 

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