Der «Star» trägt die Nummer 28

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute schreibt Thomas Wyss, der kürzlich erstmals in Lissabon war, über seine Erfahrungen mit den dortigen Strassenbahnen.

In Lissabon, das merkt der typische (sprich gar im Urlaub noch gern herumhetzende) Zürcher relativ rasch, hat der Alltag einen anderen Rhythmus, als er es sich von zuhause gewohnt ist; er ist, um es clubmusikalisch zu formulieren, dem schlurfenden Downbeat oder dem verpeilten Trip Hop nämlich deutlich näher als dem hibbeligen Dubstep oder dem vorwärtsstampfenden Tech House. Was zur Folge hat, dass das Innehalten und Warten in Portugals Hauptstadt ein zentraler Zeitvertreib ist, dem man von früh bis spät immer irgendwie und irgendwo nachgehen kann – oder, aus Zürcher Sicht: nachgehen muss.

Vor der Apotheke, die offiziell um 10 Uhr öffnet, wartet man um 10.40 Uhr noch immer darauf, bis es auch in der Lissaboner Zeitrechnung 10 Uhr wird.

Morgens wartet man beispielsweise im Boulevard-Café, bis die beiden Kellner ihre ausschweifende Diskussion über den abends zuvor gespielten Match zwischen Benfica und Porto beendet haben und bereit sind, die Bestellung aufzunehmen. Vor der Apotheke, die offiziell um 10 Uhr öffnet, wartet man um 10.40 Uhr noch immer darauf, bis es auch in der Lissaboner Zeitrechnung 10 Uhr wird. Stunden später wartet man dann im Laden mit der Töpferkunst geduldig ab, bis die spirituell geschulte (oder schlicht ein wenig durchgeknallte) Verkäuferin ihren langen Monolog beendet, in dem sie dauerlächelnd und facettenreich erklärt, weshalb es die Blumenvase, die man ungefragt fotografierte (weil sie vom gestalterischen Aspekt her so überaus prächtig misslungen ist), überhaupt nicht mochte, dass sie abgelichtet wurde. Spätabends wartet man dann in der Bar, bis der Zampano hinter dem Tresen mit viel Verve, aber wenig Tempo, seinen Hausdrink fertig gemixt beziehungsweise «zelebriert» hat. Ja, und manchmal wartet man als Zürcher auch bloss darauf, bis die laute Horde Ostschweizer am Nebentisch endlich ihre Biere ausgetrunken hat und der stechende Schmerz im Gehör nachlässt (wobei zu betonen ist, dass dieses Warten nicht Lissabon-spezifisch ist, das kann überall in der Welt passieren).

Unterschiedliche Streckenlängen

So, und damit kommen wir zur Königsdisziplin des Innehaltens: Am häufigsten und längsten wartet man in Lissabon nämlich nach wie vor auf die Strassenbahn, offiziell «Eléctricos de Lisboa» genannt. Die fünf heute noch existierenden Linien, die kreuz und quer durch die Alt- und Innenstadt holpern, verkehren zwar nach Taktfahrplan. Es gibt an den Stationen sogar elektronische Anzeigen, die vermelden, in wie vielen Minuten der nächste Wagen eintrudelt – doch deren Verlässlichkeit ist vergleichbar mit Prognosen über Aktienkurse in der Phase des Börsencrashs.

Der Grund dafür ist vor Ort nicht zu übersehen: Das lokale Tram ist nämlich nie nur ein Transportmittel, es ist auch ein Museum auf Rädern, auch eine Touristenattraktion, und dies vor allem: auch ein Verkehrshindernis.

Besonders eindrücklich manifestiert sich all dies bei der Linie 28E. Sie ist sozusagen der Cristiano Ronaldo (will sagen: der grosse Star) des Lissaboner ÖV, dementsprechend ziert sie auch Tassen und Tragtaschen und T-Shirts in Touri-Shops, ist Standardsujet auf jeder zweiten Postkarte und liebstes Objekt der örtlichen Hobbypinsler.

Geografisch durchmisst die «28» auf ihrer kurvigen Berg- und Tal-Strecke zwischen Martim Moniz und Prazeres einen beträchtlichen Teil des eigentlichen Zentrums und dessen Sehenswürdigkeiten – darunter die mit modernen Bussen oder Schienenbahnen niemals zu bewältigenden Altstadtviertel Gracia, Alfama (das ist ein hübsches Wirrwarr aus pittoresken Gassen und Gässchen, die nach dem verheerenden Erdbeben 1755 nach altem maurischen Vorbild wieder neu errichtet wurden) und Baixa, den vornehmen Stadtteil Chiado sowie das Ausgehquartier Bairro Alto in der westlichen Oberstadt.

Mittelkurzes Intermezzo für ÖV-Nerds: In westlicher Richtung ab Martim Moniz beträgt die Strecke gemäss der allwissenden Online-Enzyklopädie exakt 6,973 Kilometer, die Reisezeit dauert (ohne Zwischenfälle) 40 Minuten. In der entgegengesetzten Richtung jedoch weisen die Schienen eine Länge von 7,551 Kilometer auf, wobei die Reisezeit interessanterweise nur 37 Minuten beträgt.

Dies erklärt sich unter anderem mit den zu bewältigenden (und weltweit einzigartigen) Steigungen von bis zu 13,5 Prozent – für Adhäsionsbahnen, bei welchen der Antrieb allein durch die Haftreibung der Räder erfolgt, sind das erstaunliche Zahlen. Zumal exklusiv – damit wären wir beim zuvor erwähnten musealen Aspekt – sogenannte «Remodelados» mit Holzaufbau eingesetzt werden, die zwischen 1935 und 1940 erbaut und 1995/96 (also auch schon vor zwei Jahrzehnten) technisch modernisiert wurden.

Von aussen betrachtet sehen viele dieser Schienenbahnen irgendwie «fancy» aus, das heisst, sie fungieren unter anderem als grossflächige Werbeträger für trendige Kleidermarken. Im Wageninnern jedoch herrscht der pure Anachronismus, man fühlt sich da bisweilen fast so wehmütig in «Grossvaters Zeiten» zurückkatapultiert, wie wenn man durchs Zürcher Trammuseum an der Forchstrasse oder durchs Verkehrshaus Luzern schlendert.

Wissenwertes zum «Fahrspass»

Zurück zum normalen Bericht – und damit gleichzeitig zum vielleicht wichtigsten Punkt, dem Fahrspass. Der sich, es sei vorweggenommen, für Menschen, die a) einen empfindlichen Magen oder b) Platzangst haben, oder welchen ganz generell das Flair für altertümliche Geräusche und Gerüche abgeht, in engen Grenzen hält. Hier die Gründe:Während der Fahrt ächzt, holpert und quietscht es immerfort, in engen Kurven und extremen Anstiegen/Abfahrten noch ein bisschen mehr.

  1. Fakt ist, dass die mit offiziell 20 Sitz- und 38 Stehplätzen versehenen «Remodelados» ausser zu Randzeiten stets heillos überfüllt sind; völlig egal, an welcher Station und zu welcher Uhrzeit man zusteigt. Wenn es sehr warm ist, werden wenigstens die Fenster hochgeschoben (sofern sie nicht grad klemmen), was jedoch nicht eben ungefährlich ist: Wenn man wegen akuter Überhitzung den Kopf nach draussen streckt, um nach Luft zu schnappen, kann es passieren, dass man diesen an einer Hausmauer oder einem Baum anschlägt.
  2. Während der Fahrt ächzt, holpert und quietscht es immerfort, in engen Kurven und extremen Anstiegen/Abfahrten noch ein bisschen mehr.
  3. Es kommt fast auf jeder Fahrt vor – damit sind wir beim Thema «Verkehrshindernis» – dass der Wagen endlose Minuten mitten auf der Strecke stehen bleibt; sei es, weil ein Lastwagen falsch parkiert hat und ein Vorbeikommen nicht mehr möglich ist, sei es, weil das vordere Tram blöderweise grad Defekt erlitten hat. Nach ungefähr fünf Minuten Wartezeit beginnt dann das Hupkonzert der Autokolonne, die sich hinter der Strassenbahn gebildet hat. Im Innern des Wagens hört sich diese Kakophonie besonders toll an.
  4. Zwei Regeln gilt es strikt einzuhalten, wenn man vom Tramfahrer nicht übel beschimpft werden will – eingestiegen wird nur bei der vorderen Türe, ausgestiegen nur bei der hinteren. Besonders blöd ist es deshalb, wenn man sieht, dass das Tram eben auf die Haltestelle zusteuert, bei der man raus muss – sich aber noch direkt hinter dem Fahrer befindet: Die Chance, dass man es durch den dichtgedrängten Menschenpulk bis nach hinten schafft, liegt gemäss einer schwarzhumorigen Studie bei exakt 0,008735 Prozent (Der, der hier schreibt, hat es dennoch versucht, ist dabei aber kläglich gescheitert – er stieg dann, nachdem er reichlich Flüche, Fusstritte und Rippenstösse abbekommen hatte, drei Stationen später aus).

Die meisten Fahrerinnern und Fahrer sind trotz offener Führerkabinen höchst entspannt bei der Arbeit.

Berücksichtigt man all die genannten Aspekte, müsste man annehmen, dass sich die  Tramchauffeusen und -chaffeure der Companhia de Carris de Ferro des Lisboa – das ist Lissabons Pendant zu den Verkehrsbetrieben der Stadt Zürich – pausenlos am Rande des Nervenzusammenbruchs bewegen. Doch weit gefehlt! Die meisten Fahrerinnern und Fahrer sind trotz offener Führerkabinen höchst entspannt bei der Arbeit; die Männer erläutern kleinen oder auch mal grossen Buben leidenschaftlich Hebel, Pedalen, Räder und andere technische Dinge, derweil die Damen gar mitten in der Fahrt Zeit finden, sich die Lippen frisch zu kolorieren, oder sich per Smartphone zum Apéro zu verabreden oder sich mit den Freundinnen über eine neue Telenovela auszutauschen.

Das Fazit

Die Fahrt mit dem berühmten Tram «28E» ist ein unterhaltsames Abenteuer in Form einer Sightseeing-Tour (wo sonst auf der Welt kann man sich vom Trämli praktisch direkt vor ein Schloss karren lassen? Hier ist das möglich, von der Haltestelle bis zum Castelo de São Jorge sind es bloss ein paar Gehminuten), und wenn man sich mal ans holprige Auf und Ab gewöhnt hat, ist es wie am «Knabenschiessen» auf der Achterbahn: Man will wieder und wieder und wieder fahren!

Die Einzelfahrt kostet stattliche 2,85 Euro. Wer auf den Geschmack kommt, sollte sich eine Art Tageskarte («Sete colinas» oder «Via viagem») kaufen, die er mit einem gewissen Geldbetrag auflädt; abgebucht wird der Fahrpreis dann automatisch im Traminnern.

Es ist noch zu erwähnen, dass wir hier nur auf die Alt- und Innenstadttrams fokussiert haben. Es existieren in Lissabon aber auch moderne Kompositionen, die vom Standard durchaus mit den Trams in Schweizer Städten vergleichbar sind. Sie werden auf Vorortsstrecken eingesetzt, zum Beispiel ins sehenswerte Städtchen Belém, wo sich mit dem «Torre de Belém» und dem «Mosterei dos Jerónimos» (ein Kloster) gleich zwei Unesco-Weltkulturerben befinden. Und wer sich für die Historie der Lissaboner Strassenbahnen interessiert (zu der auch «Rösslitrams» gehörten), findet dazu auf Wikipedia ausführliche Informationen.

Ein Moment aus dem Führerstand

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