Der Wilde Westen der VBZ

Jeder kennt sie – die archetypischen Cowboys: Clint Eastwoods Mann ohne Namen, Henry Fonda, Butch Cassidy und The Sundance Kid. Doch die wenigsten wissen, dass auch die VBZ ihre Cowboys und Cowgirls haben, die täglich Reittiere wie Trams und Busse satteln.

Sattlereien erinnern an mutige Cowboys, die ihre kräftigen Pferde mit geschickten und geübten Händen in der geheimnisvollen Morgendämmerung satteln, bevor sie sich auf den langen und gefährlichen Weg durch den wilden, staubigen Westen machen. Eine Übertragung auf die heutige Zeit mag zwar etwas weit hergeholt sein, dennoch lässt sich nicht leugnen, dass unsere Sattlerinnen und Sattler tatsächlich heute noch waschechte Cowgirls und -boys sind – wenn auch nur im Geiste und ohne Kühe.

Mehr als die Hälfte der Sitzpolster in Tram und Bus sind aus Stoff, der exklusiv für die VBZ produziert wird und dessen Bemusterung nur in Zürich verwendet werden darf. Doch das Zuschneiden des Stoffes sowie die eigentliche Polsterung der Sitze geschieht in der Zentralwerkstatt der VBZ – genauer gesagt in der Sattlerei. Und in dieser «Ranch» sind unsere Cowgirls und -boys zu Hause.

Gepunktet, kariert oder monochrom, jeder Stoff- und Lederbezug der «VBZ-Pferde» muss sorgfältig zugeschnitten und gesattelt werden. Während die neuen eLeather-Polster im sanften, fast cremigen Braun produziert werden, sind die Stoffpolster je nach Tram und Bus unterschiedlich gemustert. Ob blau-weiss oder grau-weiss kariert, weiss gepunktet auf dunkelblauem Hintergrund und dazu noch mit weissen Kreisfiguren versehen – zwar kennt jeder Zürcher und jede Zürcherin diese Sitzmuster, doch nur die wenigsten denken täglich über ihre Anfertigung nach – so wie es Sara und Sibylle, unsere zwei Sattlerinnen, tun.

Fragt man sie nach den verschiedenen Mustern, holen beide Frauen blitzartig unterschiedlichste Stoffmuster aus den Wandschubladen raus und geben zu jedem ihre professionell fundierte Rezension ab: Sara mag zwar die klassischen VBZ-Muster, hätte sie die Wahl, würde sie diese jedoch durch einfarbiges Anthrazit auswechseln. Das Lieblingsmuster von Sibylle ist hingegen das grau-weiss karierte Cobra-Design. Nichtsdestotrotz würde sie nicht alle Fahrzeuge gleich beziehen wollen. «Ein bisschen Farbe muss sein», lacht sie. Allerdings gestehen beide Cow- beziehungsweise Tram- und Bus-Girls, dass die VBZ-Polster im internationalen Vergleich sehr gut abschneiden: So hätten sie in vielen anderen Grossstädten allerlei unästhetische Sitzpolster gesehen (aus Höflichkeit verraten wir nicht, welche Muster entsetztes Kopfschütteln verursachen). Die Online-Community scheint mit unseren Sattlerinnen einverstanden zu sein – keines der VBZ-Sitzmuster wurde nämlich zum Sitzmuster des Todes ernannt.

Unabhängig vom genauen Muster kommt für die Anfertigung der Polster die Nähmaschine als zentrales Werkzeug zum Einsatz. So wichtig ist diese, dass sie sogar einen Namen hat. Zwar habe Chantal manchmal immer noch keine Lust, den Faden abzuschneiden, doch benehme sie sich viel besser, seitdem sie getauft wurde, teilt uns Sara mit. Auch der knapp sechsjährige Dimitri ist inzwischen braver: Stolz und mutig steht der grosse, fast «erwachsene» Cutter inmitten der Sattlerei und unterstützt die Arbeit im «wilden Westen» der VBZ. Bedient wird er mithilfe eines Computers, auf dem man jeweils das entsprechende Design und die gewünschte Menge der Polster angibt. Alles andere erledigt Dimitri selbst. Nicht überzeugt? Werfen Sie einen Blick darauf, wie gewissenhaft und konzentriert Dimitri dahin galoppiert.

Trotz lustiger Anekdoten zu tödlichen Sitzmustern und feierlichen Taufritualen ist die Arbeit in der Sattlerei oft zeitkritisch und aufwendig – kaum hat man die defekten Polster ausgewechselt, kommen mehrere neue an und die Arbeit beginnt von vorne. Gründe für die Auswechslung gibt es viele. Allgemein gilt, dass Polster eine relativ kurze Lebensdauer haben, da sie tagtäglich genutzt werden. Manchmal reicht es zwar aus, wenn sie gründlich gereinigt werden. Doch oftmals sind sie zu kaputt, staubig oder schmutzig, um gerettet zu werden. Vor allem am Wochenende sowie rund um Feiertage wie Neujahr kommt es häufig vor, dass Polster gewollt und ungewollt zerstört werden. Stellen Sie sich vor, wenn die Sattlerei zum Beispiel alle 7920 Polster unserer 88 Cobra-Trams auswechseln müsste!

«Wir haben immer viel zu tun, aber können alle gut damit umzugehen», vergewissert uns Sara.  Seit Kurzem sorgen beispielsweise auch die neuen E-Leather-Polster für viel Arbeit. Obwohl diese langfristig hygienischer und nachhaltiger sind, muss man sie mehrere Stunden ablüften lassen, sodass man für ihre Anfertigung mit jeweils etwas längerer Durchlaufzeit rechnen muss.

Wird sich die Arbeit der Sattlerei in den nächsten Jahren stark verändern? Sara vermutet, dass die geplante Ausmusterung der Serien 1 und 2 des Tram 2000 die Auslastung in absehbarer Zeit verringern wird, u.a. weil das neue Flexity Holzsitze hat. Dennoch werden die Busse auch künftig noch Polster haben, sodass es unterm Strich immer noch viel zu tun geben wird. Noch weniger kann sich Martin, der Leiter der Sattlerei, vorstellen, dass 3D-Drucker bald ein Thema werden könnten. Trotz der Unterstützung durch Dimitri ist die Herstellung jedes Sitzpolsters immer noch mit mehreren weiteren Schritten in Handarbeit verbunden, die nur vom Menschen ausgeführt werden kann.

Monoton ist die Arbeit trotzdem keineswegs – neben den VBZ-Polstern fertigen die Sattler und Sattlerinnen zum Beispiel Motorabdeckungen sowie diverse andere Accessoires wie Lederriemen und Leder-Innenwände für Tram und Bus an. Zwei bis dreimal jährlich erhalten sie auch noch kleinere externe Aufträge. Nicht zuletzt unterstützt die Sattlerei immer stärker bei der Gestaltung von VBZ-Räumen. Dies kann zwar eine fachliche Herausforderung für die Mitarbeitenden sein – so etwa als unser Sattler Valdrin ein Sofa von A bis Z gestalten musste ­– schafft aber auch mehr Raum für Kreativität und ist eine willkommene Abwechslung. «Alles in allem bleibt unser Kerngeschäft aber das Satteln und Polstern», resümiert Sara. Schliesslich können unsere Trams und Busse nur richtig und sauber gesattelt fahren.

Jeder kennt sie – die archetypischen Cowboys. Zwar mögen diese im 21. Jahrhundert nicht mehr existieren, doch gibt es moderne Nachfolger davon – auch bei den VBZ. Und sie satteln heute noch stets unermüdlich und meisterhaft unsere diversen Reittiere.

 

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