«Es ist Monate her, seit mir letztmals das Gesicht gewaschen wurde»

«Wo wir fahren, lebt Zürich»: Unser Versprechen gilt in guten Zeiten – und auch in diesen. Zürich lebt, auch wenn es gerade etwas aus dem Takt gekommen ist. In der Serie #sogahtsZüri erzählen Zürcherinnen und Zürcher, wie es ihnen in den Lockdown-Wochen erging und ergeht. Zum Abschluss sinniert das Denkmal von Alfred Escher über Corona-bedingte Einsamkeit, «Körperpflege» – und unsere Stadtpräsidentin.

Natürlich sorgte man sich während der Corona-Krise zuerst um das Wohlergehen des Menschen, schliesslich gilt er, künstliche Intelligenz hin oder her, nach wie vor als die höchst entwickelte Spezies, gerade wenn es um emotionale und soziale Belange geht.

So ab Ende März – der Lockdown war da zwei Wochen alt – wurde in den Medien dann auch das Thema «Homeoffice vs. Haustiere» aufgegriffen. So war zu erfahren, dass es Büsis gibt, welche die morgendliche Zoom-Konferenz von Frauchen gezielt zur Catwalk-Show nutzen (der Name kommt halt nicht von ungefähr). Oder dass gewisse Meerschweinchen ihr Fressverhalten demjenigen des Ernährers angepasst hätten – und wenn dieser bei der Heimarbeit zum «Snacken» tendiere, also aus dem Küchen- oder Kühlschrank permanent Nüsse, Käse, Wähereste usw. schnabuliere, knabbere auch das niedliche Tier, das eigentlich auf drei Mahlzeiten konditioniert sei, plötzlich bis zu fünfzehnmal pro Tag an Äpfeln, Möhren, Salatblättern usw. rum.

Die dritte Gruppe humaner Erscheinungsform jedoch – genau, die Rede ist von Denkmälern, Skulpturen etc. – wurde von Zeitungen, Fernsehstationen wie auch von den sogenannt «sozialen Medien» bis heute komplett ignoriert. Obwohl nicht wenige dieser Figuren Zeit ihres gelebten Lebens Kalamitäten durchmachen mussten, die heftiger waren als das, was uns in den letzten zweieinhalb Monaten wiederfahren ist.

Zeitlebens ein «Workaholic»

Exemplarisch dafür steht der Politiker, Wirtschaftsführer und Eisenbahnpionier Alfred Escher, der am 20. Februar 1819 in Zürich geboren wurde und am 6. Dezember 1882, wiederum in der Limmatstadt, vertarb. Wegen seiner schier unzähligen Aktivitäten, Ämter und Mandate – und anderem war er Nationalratspräsident, Mitgründer des Eidgenössischen Polytechnikums (heute: ETH), Gründer der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse) und der Nordostbahn sowie Initiant der Gotthardbahn, deren Gesellschaft er auch präsidierte – genoss Escher im Land viel Ansehen und Einfluss.

Wegen der Machtfülle, die er auf sich vereinte, gab es aber auch viel Kritik und Neid. Besonders gross wurde der Druck auf Escher, als es beim Bau der Gotthardbahn zu Kostenüberschreitungen kam – und zudem Gerüchte kursierten, die Familie Escher habe auf einer Kaffeeplantage in Kuba Sklaven für sich arbeiten lassen (was 2017 von einem Historiker anhand entdeckter Dokumente belegt werden konnte).

Obwohl die Kritik und Missgunst Alfred Escher wiederholt gesundheitliche Probleme bereiteten, blieb er bis zum Tode ein «Workaholic», wie man heutzutage sagen würde, der all sein Tun und Lassen in den bildungsmässigen und technischen Fortschritt der Schweiz investierte. An der Abdankungsfeier, die am 9. Dezember 1882 abgehalten wurde, nahmen dann auch diverse Bundes-, National- und Ständerräte teil, und der Vorschlag eines Komitees, Escher an prominenter Lage ein bronzenes Denkmal mit Brunnen zu errichten, fand über alle Parteigrenzen hinweg Zustimmung.

Klare Vorgaben fürs Gespräch

Da uns wundernahm, wie sich ein solch renommiertes Standbild fühlt, das praktisch von Heute auf Morgen sein ganzes «Publikum» verliert, haben wir bei der städtischen Denkmalpflege den Antrag für ein Interview mit dem Escher-Denkmal gestellt. Erst hiess es, man brauche ein paar Tage Bedenkzeit, doch schon am darauffolgenden Tag kam die Zusage, allerdings geknüpft an zwei Bedingungen: «Erstens sind keine Frage zum Thema Sklavenhaltung zugelassen, zweitens wird die Gesprächszeit auf präzis 15 Minuten beschränkt». Wir akzeptierten.

PS: Alfred Escher benutzte im Gespräch öfters Ausdrücke, die heute nicht mehr Usus sind. Wir haben diese Begriffe beim Transkribieren ins heutige gängige Idiom übertragen, damit die Lektüre für alle problemlos lesbar ist).

 Herr Escher, Sie stehen nun ja schon ein Weilchen da am Bahnhofplatz …(unterbricht): Das können sie laut sagen! Seit anno 1889, das sind … warten sie (leise murmelnd) tausendachthundertneunundachtzig und elf gibt tausendneunhundert, und hundert dazu gibt dann zweitau …

Es sind 131 Jahre.
Jaja, ich hätte es auch grad gehabt.

Jedenfalls lautet die Frage: Haben Sie den Bahnhofplatz in diesen 131 Jahren tagsüber jemals so leer erlebt wie während der Lockdown-Wochen?
Niemals! Während der spanischen Grippe, die bei uns ja zwischen September und November 1918 grassierte, war der Platz zwar teilweise auch leerer als normal. Wie jetzt, waren eben auch damals Tanz-, Theater- und Konzertaufführungen abgesagt. Doch da man das Volk 1918 dazu aufrief, Bettdecken und Matratzen zu spenden, Autos den Ärzten zur Verfügung zu stellen und wenn immer möglich freiwillige Hilfe zu leisten, ward der Bahnhof und seine Umgebung halt trotzdem noch von stattlich vielen Menschen frequentiert.

Das war diesmal anders?
Jawohl, mein Herr! Ich habe genau buchgeführt. Am 18. März, am 2. April, vom 9. bis 11. April und dann nochmals am 1. Mai wurde ich nicht ein einziges Mal beachtet oder fotografiert. Stellen Sie sich das einmal vor!

Wie oft werden Sie denn im Normalfall abgelichtet?
An Spitzentagen sind es schon 150 bis 160 Mal. Bei Starkregen, in den Sommerferien, wenn kaum Touristen in der Stadt sind, oder an frostigen Wintertagen – sprich an wirklich saumässigen Tagen – sind es doch immer noch 20 bis 30.

Hat Sie das – wie kann man es formulieren, damit es nicht blöd klingt? – irgendwie verletzt?
Verletzt nicht, nein, soweit würde ich nicht gehen. Aber gemocht hat es mich schon, dazu stehe ich. Man gewöhnt sich halt an die Menschen (seufzt hörbar).

Dabei heisst es immer, im Alter lasse die Eitelkeit nach. Das ist dann wohl eine Mär.
(empört) Das hat doch nichts mit Eitelkeit zu tun!

Sondern?
Mit Einsamkeit! Mir fehlt das Alltagsleben, die Gesellschaft, das Vorbeihetzen der Passanten, das Sprachenwirrwarr der Touristen, die frechen Sprüche  und Gesten der Teenager, wenn sie vor mir stehen, das derbe Rülpsen der Obdachlosen … aber auch der Motorenlärm, die Polizeisirenen, das Blau und Weiss der Trams und Busse, die in zuverlässiger Regelmässigkeit vorbeifahren.

Aber der öffentliche Verkehr ist doch auch während des Lockdowns gefahren.
Aber viel, viel seltener. Wollen sie etwa meine Aufmerksamkeit anzweifeln? Ich registriere alles! Wie auch immer, ich fühlte mich bisweilen wie die Affen im Zoo.

Die Affen im Zoo?
Ja, vor allem die Grossen, die Gorillas, die Orang-Utans, und die Schimpansen. Ich habe vernommen, denen sei es ohne die Besucher, die ihre Nasen an die Scheiben drückten, richtig langweilig geworden. Immerhin hatten die Viecher noch die Wärter, die sich um sie gekümmert haben.

Hat sich um Sie denn niemand mehr gekümmert?
Niemand! Um es Deutsch und deutlich zu sagen: Es ist Monate her, seit man mir das Gesicht gewaschen, die Geheimratsecken poliert, den Bart oder den Mantel gestriegelt hat. Alles ist voller Fein- oder Blütenstaub!

Das spricht nicht gerade für die städtische Denkmalpflege.
Jawohl mein Herr, richtig erkannt! Unsereiner vermisst die Wertschätzung. Und die Spur der Malaise führt bis nach ganz oben. Der Kopf stinkt vom Fisch her.

Sie meinen, der Fisch stinkt vom Kopf her?
Jaja, so oder ähnlich, immer diese neumodischen Sprichwörter … aber sie wissen, was ich meine.

Nein, überhaupt nicht.
Ich rede von der Stadtpräsidentin.

Corine Mauch? Was hat sie denn getan?
Es geht eher um die Frage, was sie NICHT getan hat.

Das wäre?
Mir einen Besuch abgestattet.

Mit Verlaub, aber sie musste sich ums Krisenmanagement kümmern – dass ihre Arbeit Priorität hatte und wichtiger war als der Besuch eines Denkmals, steht wohl ausser Debatte.
Aber beim Waldmann Hans war sie auch! Und wie man hört sogar beim Huldrych – für die Alten hat der Respekt also grad noch ausgereicht!

Das Waldmann-Denkmal steht unweit des Stadthauses, wo Frau Mauch arbeitet – gut möglich, dass sie da auf dem Heimweg mal vorbeigeradelt ist. Bei der Zwingli-Statue aber war sie sicher nicht.
Weshalb wollen gerade sie das wissen? Haben sie ein Wissenslexikon verschluckt? (kichert hörbar über seinen eigenen Scherz)

Das weiss nicht nur ich, es ist allgemein bekannt, dass der Zwingli seit letztem Sommer bei einem Spezialisten in St. Gallen in Revision ist.
Ohalätz, da bin ich offensichtlich Opfer einer schelmischen Flunkerei geworden.

Wer hat denn diese «Fake News» in Umlauf gebracht?
Es war Ganymed, der spröde Jüngling mit Adler, vom Bürkliplatz. Der war ziemlich unterwegs, als ehemaliger Hirtenknabe wollte er wahrscheinlich nach seinen Schäfchen Ausschau halten … und weil er den Schutz der Götter geniesst, hatte er auch nichts zu befürchten.

Was hat die Ganymed-Skulptur sonst noch erzählt?
Dass Zürichs weibliche Denkmäler und Statuen während der Corona-Zeit nach dem Eindunkeln regelmässig Männerbesuch gehabt hätten – trotz «Bleiben Sie zuhause»-Parole des Bundesrates! Bei Hermann Hallers «Mädchen mit erhobenen Händen», das vor der Saffa-Insel steht, und bei der ebenfalls entblössten Dame im Belvoripark, sind laut Ganymed regelrechte Ansammlungen zu beobachten gewesen. Und von der Polizei breit und weit keine Spur!

Weit und breit.
Wie meinen?

Es heisst weit und breit, aber egal. Ganymeds Beobachtung ist jedenfalls interessant. Haben Sie eine Vermutung, was zu diesem nächtlichen Kunstinteresse geführt haben könnte?
Oh ja, die habe ich sehr wohl. Aber sie zu äussern, wäre unanständig, das kann ich mir in meiner gesellschaftlichen Position nicht erlauben.

Come on, Herr Escher! Die Prüderie, die ihre Zeit prägte, haben wir längst hinter uns gelassen.
Zügeln sie ihre Sprache, sie junger Schnaufer!

Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahetreten.
Item, meine Taschenuhr sagt mir, dass unsere Gesprächszeit sowieso um ist. Ich gestatte noch eine letzte Frage, sofern sie züchtig bleibt.

Gut, danke. Ich habe gehört, dass während der Spanischen Grippe das Gerede ging, Alkohol und Tabak würden als Präventionsmittel oder bei der Behandlung helfen. Lustigerweise wurde nun dieselbe «Medizin» von gewissen Leuten auch beim Covid-19-Erreger als Schutzmittel oder zur Bekämpfung der Krankheit empfohlen.
Ja, das war damals tatsächlich der Fall. Allerdings machten viele wilde Gerüchte die Runde. Es hiess zum Beispiel auch, man könne das Grippevirus mit Mundspülungen beseitigen oder mit Staubsaugern aus dem Körper saugen. Was uns wieder einmal zeigt: Krisen kommen und gehen, Menschen bleiben, wie sie sind.

Ein grandioses Schlusswort! Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Immer gern, ich habe ja sonst nicht viel zu tun.

Wenn das so ist, liegt ja vielleicht doch noch eine weitere kleine Frage drin?
Also gut, eine wirklich letzte.

Was halten Sie eigentlich von ihrem Denkmal – aus künstlerischer Sicht, mein ich?
Ich schätzte Richard Kisslings Arbeiten sehr, er ist meiner Meinung nach einer der besten Schweizer Bildhauer, auch über seine Zeit hinaus. Allerdings halte ich das Telldenkmal in Altdorf und auch jenes von Humanist Vadian in St. Gallen gelungener als meins hier in Zürich … ich wirke für meinen Geschmack etwas korpulent.

Dann ist Kissling kaum ihr Lieblingskünstler?
Die nächste letzte Frage? Sie sind äusserst hartnäckig, wie mir scheint. Aber nein, mein Lieblingskünstler ist natürlich M. C. Escher, der surreale holländische Maler, der meines Wissens mit einer Schweizerin verheiratet war … leider sind wir nicht verwandt, und noch bedauernswerter ist es, dass ich seine Aktivzeit wegen meines verfrühten Ablebens gar nicht mehr habe miterleben dürfen.

Noch mehr Geschichten darüber, wie es den Zürcherinnen und Zürchern in diesen Zeiten geht, gibt’s unter #sogahtsZüri

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