«Es war Liebe auf den ersten Blick»

Hierzulande kümmert sich Reto Hürlimann als VBZ-Mitarbeiter im Kundendienst um das Wohl der Fahrgäste. In Japan jedoch ist er ein Promi – dank einer niedlichen Kreatur.

Reto Hürlimann ist von Beruf VBZ-Mitarbeiter, der sich im Kundendienst tagein und tagaus um das Wohl der Zürcher Fahrgäste kümmert. Privat aber ist Hürlimann ein Promi. Eine Art Star. Nicht hier in der Schweiz, sondern im Land der aufgehenden Sonne. Seinen Erfolg verdankt er einer quirligen Zugbegleiterin der Rhätischen Bahn, die mit ihren frechen blauen Strähnen und ihrem charmanten Lächeln die Herzen der Japaner erobert hat. «Nozomi» ist der Name dieser von ihm im Manga-Stil erschaffenen Kunstfigur, die nun als Maskottchen der Rhätischen Bahn (RhB) auf Twitter oder als Pappfigur an den Stationen die Touristen willkommen heisst und mit wichtigen Tipps versorgt (siehe dazu auch das Interview: «Wenn ein VBZ-Mitarbeiter einen viralen Hit landet»).

Die fröhliche Zugbegleiterin «Nozomi» repräsentiert die Rhätische Bahn. | Foto: RhB

Als Vertreter des RhB-Maskottchens pflegt Hürlimann regen Businesskontakt zu privaten Bahngesellschaften, die sich an Japans Maskottchen-Fieber beteiligen. Betrachtet man nun das Sammelsurium an Fanartikeln aus dieser herzigen Zugbegleiter-Figuren-Welt, die der Kollege bei unserem Gespräch auf dem Tisch ausbreitet, ist es offensichtlich – ihn hat das Sammelfieber gepackt. Unser «Japan-Spezialist» ist aber hier, um uns auf den neusten Stand zu bringen und über seinen offiziellen Besuch beim Verkehrsunternehmen «Nara Kotsu» zu berichten.

ようこそ、奈良へ – Willkommen in Nara
Das jüngste Abenteuer führte den vielgereisten VBZ-Mitarbeiter nach Nara, einer der beliebtesten Touristendestinationen in Japan. Abgesehen von den antiken Tempelanlagen und schönen Gärten sind es vor allem die unzähligen Rehe, welche als Attraktion dieser Stadt mit 356.992  Einwohnern gelten, die sich in der Kansai Region von Japan befindet. Dort lernt man die vermeintlich sanften «Bambis» von einer anderen Seite kennen. Alles andere als scheu, haben sie die Stadt sozusagen «erobert». Anders gesagt: Die zutraulichen Tiere findet man nicht nur in Gärten, sondern auch in Strassen, vor Geschäften – schlicht überall. Hürlimann deutet auf ein Selfie mit einem Reh. «Es war Liebe auf den ersten Blick», sagt er, fügt aber sogleich lachend hinzu, sie seien allerdings ziemlich aggressiv, wenn es ums Essen geht: «Die niedlichen Tiere haben mir den Mantel zerbissen, der musste danach notfallmässig in die Reinigung!»

Hürlimann mit seiner neuen Bekanntschaft, kurz bevor sein Mantel daran glauben musste.

Hürlimanns Geheimnis für gute Ferien? Gute Kontakte und eine Prise Zufall: Viele seiner Follower auf Twitter arbeiten in Verkehrsunternehmen in Japan. Einer bekam Wind von seinen Reiseplänen und sorgte dafür, dass der Zürcher in Nara wie ein «VIP» empfangen und behandelt wurde – und deshalb sowohl einen Ausflug in einen Erlebnispark (mit anschliessendem Interview mit dem «Train Model»-Magazine) wie auch eine persönliche Führung beim Verkehrsunternehmen «Nara Kotsu» machen durfte. Die «Nara Kotsu» bieten ihre Dienste im öffentlichen Verkehr seit 1929 an im Gebiet Nara.

Wenn der langjährige Japan-Fan einmal in Fahrt kommt, ist er kaum noch zu bremsen. Lachend berichtet er, wie man ihn in Japan aufgrund von seinen Aktivitäten manchmal versehentlich den Schweizer Botschafter nennt. Doch die ihm zugeschriebene Rolle als Botschafter nimmt er ernst. Er weiss, in welchem Winkel man sich vor dem General Manager der «Nara Kotsu» verbeugt und wie die unausgesprochenen Benimmregeln des japanischen ÖVs lauten (artig anstehen, nur flüstern, kein Telefonieren, nichts essen, sich nicht die Nase schnäuzen).

Der Kulturbotschafter neben einer interaktiven Anzeigetafel, die den aktuellen Standort der Fahrzeuge anzeigt.

Bis ins Detail beschreibt er die Unterschiede zu den Bussen zu Hause, keine Eigenheit der Modelle von «Nara Kotsu» entgeht ihm, alles wird dokumentiert von der ungewohnten Form der Halteschlaufen bis hin zu den zwölf Frontlichtern der Fahrzeuge.

Eigentlich unterscheidet sich das Busfahren in Japan nicht speziell vom Busfahren in der Schweiz. Doch Busfahrten bezahlen ist ein Thema für sich. Zum Glück hat der aufmerksame Mitarbeiter im Kundendienst das Vorgehen für zukünftige Japanreisende genau dokumentiert.

Wie überall in Japan wird die Kundschaft hochgeschätzt und mit absoluter Höflichkeit bedient. Der Stopknopf ist ein schönes Beispiel für die japanische Freundlichkeit – wo in unseren Kreisen mit vier Buchstaben direkt das Nötigste ausgedrückt wird, steht hier in einer eleganten Floskel: «Bitte drücken Sie diesen Knopf, um auszusteigen.».

Die freundlich formulierte Botschaft am Stopknopf ist zwar eine schöne Geste, aber die winzige Schrift freut eher weniger.

Genau in dieser zuvorkommenden Mentalität bildet sich gemäss Hürlimann ein Widerspruch, wenn es um die Barrierefreiheit geht. Obwohl die Fahrzeuge mit blauem Symbol ihre Barrierefreiheit preisen, müsse die Rampe für Rollstuhlfahrende mühsam von Hand auf- und abmontiert werden. So grosszügig der Gang zum Stehen sein mag, für einen Rollstuhl oder einen Kinderwagen sei er unmöglich eng. Um für einen Rollstuhl Platz zu beschaffen, müsse ein Sitz kompliziert hochgeklappt werden. Der erfahrene Mitarbeiter im Kundendienst zweifelt, ob Reisende mit eingeschränkter Mobilität den öffentlichen Verkehr nutzen.

Das Diagramm zeigt, wie der Sitz kompliziert und umständlich hochgeklappt werden soll.

Hoffnung in Gelb
Ein Lichtblick sei der neue Gelenkbus, der wie der Name «Yellow Liner» vermuten lässt, in einem fröhlichen Gelb daherkommt. Der «Yellow Liner» ist neu mit der bei uns gängigen Hydraulik ausgestattet, um sich abzusenken und so Barrierefreiheit zu ermöglichen. Dank der Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut von Kyoto-Osaka wurde der CO2-Ausstoss minimiert. Leider reichte das volle Tagesprogramm des Zürcher VIPs nicht aus, um den gelben Riesen persönlich zu bestaunen. Doch auf seine Anfrage hat uns die «Nara Kotsu» exklusive Bilder ihres neuen Prunkstückes geliefert.

Auf kultureller Mission
Reto Hürlimann hat am Beispiel des Verkehrsunternehmens «Nara Kotsu» nur eine flüchtige Impression der Vielfalt des japanischen ÖV vermitteln können. Wie sieht er denn seine Zukunft? Sind weitere Besuche bei anderen Verkehrsunternehmen geplant? Er wägt seine Worte ab und antwortet dann, dass er es nicht wisse – noch sei nichts konkret geplant. Aber er würde gerne die Rolle als Vermittler zwischen Kulturen stärker wahrnehmen. Ein grösseres Verständnis untereinander, ein offener Austauch – das sei sein Traum. Schliesslich könne man noch viel mehr voneinander lernen. Hürlimanns Augen leuchten auf, als er sich die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit ausmalt. Die ehrliche Begeisterung von Reto Hürlimann ist ansteckend – und wir freuen uns auf das nächste Mal, wenn er wieder mit einem Koffer voller Geschichten aus Japan bei uns vorbeischaut.

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren