Go West!

Steigen Sie ein und nehmen Sie Platz! Wir nehmen Sie mit auf eine Reise mit dem 4er: Zwischen Seefeld und Altstetten staunen und hören wir uns quer durch Zürich, im Ohr die Kinderstimmen eines Manifesta-Projekts.

Kennen Sie ihn auch? Den durch und durch urbanen, auf Lifestyle getrimmten Stadt-Zürcher? Nennen wir ihn Yves. Oft bärtig aber gepflegt kurvt er auf sogenannten Fixies mit engen Hosen, Vintage-Rucksack und grosser Brille über kerzengerader Lenkstange gebückt durch «sein Revier». In den Kreisen 4 und 5 fühlt er sich besonders wohl. Er fällt auf und macht Eindruck. Zumindest mir. Vielleicht, weil ich so ganz anders bin als er?

Das ist Yves (Quelle: Mikhail Semaev)

Auch nachdem ich acht Jahre in Zürich wohnte, wirken die westlich gelegenen Stadtteile noch immer etwas fremd und kühl: gen Himmel ragende Beton-Bauten, Grossbaustellen, hektischer Verkehr auf rauem Pflaster und gezeichnete Häuserfassaden, die nach frischer Farbe lechzen. Klar, hier platzt die Stadt aus allen Nähten – man hat das Gefühl, alles und jeder sei ständig in Bewegung. Hier ist der Nährboden für neue Trends und Ideologien. Kurzum, hier spielt sich das wahre Stadtleben ab.

Ich halte mich lieber rund ums Seebecken auf, schlendere durch die charmante Altstadt und bewege mich mit 15er oder Dolderbahn im Naherholungsgebiet zwischen Stadelhofen, Römerhof und Adlisberg. Stets auf der Suche nach Weitsicht und frischem Grün. Im Vergleich mit Yves wirkt das natürlich irgendwie uncool. Vielleicht liegt es daran, dass ich eben nicht urban, sondern rural – umgeben von ländlichem Idyll – aufgewachsen und tief im Inneren ein pures Landei bin. Wird sich dies jemals ändern?

Blick vom Sonnenberg über die Dächer von Zürich (Bild: Oliver Obergfell)

Seit mich mein neuer Arbeitsweg nach Altstetten führt, dringe ich fast täglich tief in den Westen vor und erlebe das «andere Zürich» hautnah. Wie es der Zufall will, soll sich auch mein erster Beitrag in diesem Magazin der Kult-Linie 4 widmen: Sie verbindet seit 2011 neu entstehende Arbeits- und Lebensräume des «Boom-Quartiers» mit der Innenstadt. Nachtschwärmer entscheiden sich für sie, um angesagte Bars und Clubs zu erreichen. Toni-Areal, Prime Tower, Schiffbau, Escher-Wyss- oder Limmatplatz sind nur einige namhafte Stationen, an denen die Linie vorbeiführt.

Los geht‘s

Ich nähere mich dem 4er aus anderer Perspektive und blicke mit Kinderaugen auf Menschen, vorbeiziehende Plätze, Cafés und Läden von Zürich West Richtung «Wohlfühlzone». Dazu installiere ich das Manifesta-Kunstprojekt «Ganz Ohr im 4i Tram» auf meinem Smartphone, stelle sicher, dass der Akku auf Anschlag steht, halte meine Kamera griffbereit und stülpe die Kopfhörer über. Start meiner audiovisuellen Erkundungstour ist der Bahnhof Altstetten Nord. Das Tram setzt sich in Bewegung, die Tonspur startet:

«Ich bin d’Anouk, min Name isch Sarah, ich heiss Moritz, ich Luc…und mir wünsched eu e gueti Fahrt.»

Nachdem sich all die kleinen Erzähler präsentiert haben, stellen sie mir Walter vor:

«Er isch de Chef vom Autoplatz und macht sin Job gern. Lieber würd er aber billig Autos chaufe und tür verchaufe, um me Gwünn z‘mache.»

Das kann ich gut verstehen. Der Autoplatz ist nicht zu übersehen. Walter scheint aber gerade nicht hier zu sein.

Autoplatz von Walter (Bild: Oliver Obergfell)

Nach der Haltestelle Würzgraben erscheint auf der linken Seite das Basislager, Naturschutzfläche und Arbeitsplatz für Künstler und Jungunternehmende, wie mir erklärt wird:

«Mir sind bi öperem gsi, wo us Stoffreschte Baumwulltüecher macht. Und übrigens, d’Ilustratorin vo eusem Stadtplan schafft au da. Det hine im 2. Stock isch ires Atelier, vilicht gsehnd Sie sie ja.»

Nein, leider sehe ich sie nicht, aber ihr Stadtplan ist sehr originell.

Die Stimmung steigt

«Und ich bin au na nie schwarz gfahre», ertönt es plötzlich. Ich zucke kurz zusammen. Aber alles gut, das Billet hab ich mir ja noch kurz vor der Fahrt gelöst. Wir halten an der Aargauerstrasse. Der ideale Ort, um einen Witz zu erzählen, findet auch der Erzähler in meinem Ohr. Wahrscheinlich geht’s um einen Zürcher:

«En Maa stigt is Tram und löst sich zwei Billet. E älteri Dame nebed ihm wundered sich: ‹Warum mached sie das?› De Maa: ‹Zur Sicherheit, falls ich eis verlüre.› D’Dame immer na gwundrig: ‹Und wänn sie beidi Billet verlüred?› De Maa winkt ab: ‹Macht nüt, dänn hani immer na d’Monäts-Charte.›

So lässt’s sich gut Tramfahren. Ich rutsche etwas tiefer in meinen Sitz und mach‘s mir gemütlich. Übrigens, die 7,7 Kilometer lange Strecke sollten wir ohne Verspätung in einer halben Stunde bewältigen. Weiter geht’s an Sportweg, Toni Areal und Technopark vorbei. Die Gebäude um mich herum werden grösser, höher, mächtiger. Namhafte Firmen haben hier ihren Sitz. Ich fühle den Puls der Stadt, bin mitten drin, «Downtown Zürich», yeah!

Und plötzlich sehe ich Yves! Ja genau, da vorne kurvt er. Ortskundig und gelenkig entlang der Pfingstweidstrasse. Er fährt weiter Richtung Neue Hard…ich verliere ihn aus den Augen. Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zum Viadukt, um sich im «Komplementair Men Store» ein neues Accessoire zu kaufen.

Das Tram führt entlang bekannter Bars und Restaurants:

«Im Les Halles sind d’Muschle sehr frisch, will zwei Mal am Tag e neui Liferig chunt. Es gits sit 1998, also scho sehr lang. Sie sind für ihri feine Muschle sehr bekannt. Pro Tag verchaufed sie zwüsched 40 bis 80 Kilogramm. Mä fühlt sich wohl drin, s’hät mega tolli Möbel und s‘isch super igrichted. Ich finds mega luschtig, s’hangt sogar na es Velo i de Luft.»

Mmmh…lecker

Kurz nach der Haltestelle Dammweg rollt das Tram an der Markthalle im Viadukt vorbei:

«Da gits e Spezialitätemetzgerei, en Beck, en Sushi-Ladä, en Wiishop und sogar en Pie-Lade: Pies sind salzigi, englischi Chüeche, wo meischtens mit Fleisch gfüllt sind. Min persönliche Lieblings-Pie isch de Shepherd‘s-Pie. De het Fleisch, Pilz und Gmües drin und isch mit Herdöpfelstock zuedeckt.»

Puh, da hat man aber auch gegessen, denk ich mir. Aber diesen Markt schau ich mir genauer an…

Am Dammweg vorbei steuern wir auf den Quellenkiosk von Joe zu. Ich erfahre einiges über ihn:

«Gönd Sie doch mal bim Joe verbi und chaufed Sie sich en Iistee, damit er sich auch mal Ferie leischte chan.»

Joe vom Quellenkiosk (Bild: Oliver Obergfell)

Aber hören Sie selber rein und erfahren Sie seine ganze Geschichte.

Tramlänge um Tramlänge  lassen wir den Kreis 5 hinter uns und ziehen ein in meine «Wohlfühlzone». Vorbei an Bahnhofquai, Central, Rudolf-Brun-Brücke, Rathaus, Helmhaus – ist es nicht schön hier?

Am Ziel

Während wir durchs Seefeld unserer Endhaltestelle entgegen brausen, lasse ich die vielen Eindrücke Revue passieren. Hat sich meine Einstellung gegenüber dem Westen verändert? Warum fühlte ich mich an jedem Ort meiner Reise wohl?

Ich denke, es liegt daran, dass mir Kinder einen Bezug zu dem geschafft haben, was mir bislang fremd und distanziert schien. Es sind Kinder, die mitten in der pulsierenden Stadt aufwachsen, deren Geschichten und Abenteuer sich auf städtischem Grund abspielen. Es liegt auch daran, dass ich mich mit Menschen wie Walter, Joe, Gian oder Heinz auseinandergesetzt habe. Zürich vereint Gegensätze und das ist gut so. Dem soll man sich nicht verstellen, sondern offen gegenüber treten. Die Reise mit dem 4er hat mir gut getan. Ich begegne dem Westen anders als zuvor…und Yves wahrscheinlich auch.

Das Manifesta-Projekt

Ganz Ohr im 4i Tram ist ein Kunstprojekt mit Kindern das für die Manifesta 11 Parallel Events entstanden ist. Es geht entlang der Tramlinie 4, von Altstetten bis ins Seefeld und zurück, vorbei an Läden, Cafés und den Ausstellungsorten der Manifesta 11. Was versteckt sich hinter den vorbeiziehenden Fassaden? Was für Menschen arbeiten da und was sind ihre Geschichten? Schulklassen aus den anliegenden Quartieren machten sich auf eine Entdeckungsreise und entwickelten einen ganz eigenen Stadtführer mit selber erfundener Musik, die sie zusammen mit Tim & Puma Mimi aufgenommen haben.

 

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