«Hey häsch mer zwänzg Franke?»

Es ist bitterkalt. Einer dieser typischen Februartage. Grau und windig. Vereinzelt landen Schneeflocken auf den Schultern der Pendler, die ebenfalls in grau gekleidet sind. Ich kämpfe mich durch die Menschenmasse zur Tramhaltestelle. Demonstrativ mit den Kopfhörern in den Ohren. Es ist früh. Ich will nicht angesprochen werden. Meine Hand wandert zur rechten Manteltasche. Zigarette raus. Geübter Klick und sie brennt. Grauer Rauch in die graue Umgebung. Zitternd stehe ich nun an der Haltestelle. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Gestalt war, die sich auf mich zu bewegt. Ich drehe mich weg und richte meinen Blick starr in die Ferne. Dann kommt die erwartete Frage. «HeyhäschmereZigi?» Eigentlich habe ich keine Lust auf Konversationen. Dennoch drehe ich mich um und blicke in das Gesicht eines Mannes. Er wird wohl so Mitte 30 sein. Das braune Haar hängt ihm strähnig ins Gesicht. Er wirkt nervös. Ich entferne einen Kopfhörer und krame meine Zigaretten hervor und gebe ihm eine.

«Da».
«He merci! Häsch mer na zwänzg Franke? Isch für en Schlafplatz. Nöd für Alkohol oder Droge. Würkli».

Vorurteile machen sich in meinem Kopf breit. Sie wurden mir von der Gesellschaft eingetrichtert. Die kaufen sich eh nur Drogen. Ja kein Geld geben. Kein Vertrauen in die Versprechungen haben. Ich will ihm keine zwanzig Franken geben. Für eine Praktikantin ist das ein Betrag, den man nicht leichtfertig einfach so verschenkt. Ich überlege mir eine Ausrede.
«Nei, sorry. Ich han kei Bargeld».
«Mir chönnd au schnell zäme an en Bankomat».

Mit dem hatte ich nicht gerechnet. Leichte Angst steigt in mir auf. Was ist, wenn ich ihn nicht mehr los werde? Was ist, wenn er mich verfolgt? Diese Vorurteile. Ich kenne weder seine Geschichte, noch kann ich mir sicher sein, ob er sich tatsächlich Drogen mit dem Geld kaufen würde. «Nei, ich mues jetzt go schaffe, weisch. Ich han der jetzt scho e Zigi geh. Frög doch öpper andersch, bitte». Er nickt und lässt mich links liegen. Auf der Suche nach neuen Sponsoren.
Ich habe ein schlechtes Gewissen. Hätte ich ihm anbieten sollen, dass wir zusammen in den Migros-Take-Away gehen könnten? Das hab ich einmal gemacht, als ich in Berlin gelebt habe. Da habe ich aber nur harsche Kritik geerntet. Der Obdachlose meinte dort, er wolle Geld. Kein Essen. Seither traue ich mich nicht mehr, dieses Angebot auszusprechen.

Das Tram fährt ein. Ich steige ein. Er auch.
Ich höre ihn von ganz hinten im Tram.

«Hey häsch mer zwänzg Franke? Isch für en Schlafplatz. Nöd für Alkohol oder Droge. Würkli».

Die Pendler schütteln entweder den Kopf oder ignorieren ihn komplett. Das tut mir weh. Er wird ausgeblendet und ausgeschlossen. Ignoriert und weggedacht. Er ist nur dieser mühsame Obdachlose, der wieder Geld will. Sicher für Drogen. Oder Alkohol. Das schlechte Gewissen plagt mich erneut. Hätte ich ihm vielleicht mein zweites Paar Handschuhe geben sollen, das ich seit zwei Wochen in meiner Tasche mit mir trage? Er trägt nur einen Kapuzenpullover und draussen sind es gefühlte minus 10 Grad. Aber er wollte Geld von mir. Ich hätte ihn wohlmöglich mit meinem Geschenk beleidigt.

Er kommt einen Wagen näher.

«Hey häsch mer zwänzg Franke? Isch für en Schlafplatz. Nöd für Alkohol oder Droge. Würkli».

Erneutes Schweigen der Fahrgäste. Betretenes Schweigen. Man schaut angestrengt aus dem Fenster.
Er erreicht mein Viererabteil. Mir gegenüber sitzt ein älterer Herr. Weisse Haare, die von einem stattlichen Hut bedeckt sind. Typ Züriberg-Rentner. Mit einem mächtigen Schnurrbart und einem liebenswürdigen Gesicht.

«Hey häsch mer zwänzg Franke? Isch für en Schlafplatz. Nöd für Alkohol oder Droge. Würkli».

Der ältere Herr lächelt ihn verlegen an. Schüttelt den Kopf. Wenigstens interagiert er mit ihm, denke ich.
Als der nach Geld Suchende an ihm vorbei geht, sehe ich wie sich die Stirn des Züriberg-Rentners runzelt. Er überlegt. Sichtlich angestrengt. Er wird sich wohl dieselben Fragen stellen, die ich mir gestellt habe. Wir schauen uns an. Zucken ratlos mit den Schultern.

Ich widme mich meinem Buch, das ich jeweils vor der Arbeit im Tram lese. «Mars» von Fritz Zorn. Eine Geschichte über einen Mann, der in eine wohlhabende Zürcher Familie hinein geboren wurde und mit der elitären Lebensweise nicht klar kommt. Der Protagonist ist unglücklich mit dem ganzen Wohlstand, während hier grad neben mir ein Anderer verzweifelt Geld sucht. Eine komische Situation.
Der Züriberg-Rentner vis-à-vis zückt sein Portemonnaie. Fischt eine Zwanzigernote hinaus, faltet sie, steckt sie in seine Manteltasche. Dreht sich um und hält nach dem jungen Mann Ausschau. Diese Geste rührt mich enorm. Ich bin dankbar, dass er diesen Schritt wagte und die Intention hat, seine Suche zu beenden.

«Hey häsch mer zwänzg Franke? Isch für en Schlafplatz. Nöd für Alkohol oder Droge. Würkli».

Wir hören ihn von ganz vorne im Tram. Stille. Ein Rascheln. Eine Frauenstimme.
«Da».
Ein unglaublich glückliches Lachen ertönt durch das ganze Tram. Gefolgt von Kussgeräuschen. Der Züriberg-Rentner und ich lächeln uns an.

Der Sitzplatz neben mir wird frei, der obdachlose Mann kommt zu uns und fragt höflich, ob der Platz noch frei sei. Ich bejahe und er setzt sich neben mich. Der Züriberg-Rentner schaut ihn an und hält ihm die zwanzig Franken aus seiner Manteltasche hin.
«Danke vielmal. Aber ich han grad vorher vonnere Frau mis Geld übercho. Das langed zum eimal übernachte. Packs ruhig wieder ii. Ich mues ja morn au namal öppis ztue ha».
Überrascht zieht der Züriberg-Rentner seine Hand zurück und nickt. Wir schauen uns an. Er wollte tatsächlich nur Geld für einen warmen Schlafplatz.

Ich schäme mich für meine Vorurteile.
Das nächste Mal mache ich es anders.

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