Meine Lieblingsagglo (1)

Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Diesmal stand er für einmal nicht an einer Station, sondern durchschlenderte das Zentrum von Schlieren, wo irgendwie grad ein bisschen die Zukunft entsteht – was ihn nicht davon abhielt, die meiste Zeit in der Vergangenheit zu wühlen. Dies ist Teil 1, der zweite folgt nächste Woche.

Dienstag, 11. Juni, 11.19 Uhr. Bus- und Tramstation «Bahnhof Schlieren»

Als ich früher als Kind das erste Mal den Namen Schlieren hörte, dachte ich an eine «verschlirgete» (also ölig verschmierte) Fensterscheibe. Kein schönes Bild, das stimmt. Und wie kleine Sürmel halt so ticken, fand ich Schlieren deshalb «voll dööflig» (also total unattraktiv); es wäre mir zum Beispiel nie im Traum in den Sinn gekommen, meinen Vater zu bitten, mit mir nach Schlieren zu fahren.

Und doch tat ich ein paar Jahre später genau das – und zwar wieder und wieder. Wie es dazu kam? Faktor eins: D’Schlieremer Chind. Das sind keine gewöhnlichen Kids aus Schlieren, nein, das ist der Name eines Kinderchors, der 1957 vom Lehrer Werner von Aesch gegründet worden war, der mit seinen über 300’000 verkauften Tonträgern heute der erfolgreichste Kinderchor des ganzen Landes ist – und dies, obwohl die inzwischen musikalisch deutlich «peppiger»  (also grooviger und moderner) gewordenen Lieder ja nach wie vor im angeblich höchst unpopulären Züri-Dialekt gesungen werden. Seis drum, mir gefielen diese damals noch harmlosen Stücke ausgezeichnet, sie vermittelten mir eine Art – nun, wie soll ich es sagen – kindliches Heimatgefühl?

Ach ja, auch noch erwähnenswert: Bereits drei Jahre zuvor hatte Werner von Aesch mit ein paar Lehrerkolleginnen und -kollegen das «Cabaret Rotstift» initiiert, um mit dem eingespielten Geld den Kindern von finanziell schlechter gestellten Schlieremer Familien die Teilnahme an einem Skilager zu ermöglichen; aus der gütigen Idee wurde später ein famoses Unterhaltungsprogramm, das durch Fernsehauftritte mit legendären Nummern wie «Skilift» nationale Bekanntheit erlangte.

Von Tennishelden und DJ-Kopfhörern

Durch Faktor 1 war diese Ortschaft mit dem komischen Namen also auf meiner Interessens-Landkarte. Faktor 2 waren dann die Tennisspieler Vitas Gerulaitis und Ion Tiriac. Noch nie von denen gehört? Das ist nicht erstaunlich – ihre grössten Erfolge erlangten die Beiden Ende der 1970er-Jahre. Der Amerikaner Gerulaitis stand im Final von drei Grand-Slam-Turnieren, gewann aber nur die Australian Open von 1977 gegen John Lloyd. Die Endspiele der US-Open 1979 (gegen John McEnroe) und den French Open 1980 (gegen Björn Borg) verlor er beide glatt in drei Sätzen. Und Tiriac, der Rumäne, holte überhaupt nur einen Major-Titel – er gewann 1979 zusammen mit seinem berühmteren Landsmann Ilie Nastase das Doppelturnier der French Open (mehr Erfolg hatte er später als Manager von Boris «Bobele» Becker). Aber pardon, ich schweife ab. Jedenfalls hatten dann Gerulaitis und Tiriac 1983 die blendende Idee, im zürcherischen Schlieren ein Tennis- und Squash-Center zu eröffnen. Sie mischten ihre Vor- und Nachnamen und nannten es «Vitis». Und da ich damals sehr gerne (wenn auch nicht sehr gut) Tennis spielte und es in Zürich damals keine andere Indoor-Anlage gab, bat ich meinen Vater in der Herbst- und Winterzeit fast jedes zweite Wochenende, mit mir in diesem «Vitis»-Center Tennis spielen zu gehen. Diesen Ort – das ist jetzt aber schon sehr persönlich, Sie dürften das auch überlesen, falls es Ihnen zu intim wäre – werde ich aber auch darum nie vergessen, weil ich da zum ersten Mal in meinem Dasein in einer Sauna und in einem Whirlpool war, und wenn man weiss, wie wichtig «das erste Mal» sein kann … aber wem sag ich das.

Wussten Sie's? Das Vitis wurde anno 1983 vom Amerikaner Vitas Gerulaitis und dem Rumänen Ion Tiriac gegründet.

Und schliesslich gab es noch einen dritten grossen Schlieren-Moment. Als der stattfand, war ich bereits in der nächsten Lebensphase angelangt: Statt Tennis stand nun Musik im Vordergrund, die Wochenenden verbrachte ich eher mit Freunden statt mit dem Vater, und all das führte irgendwann zur Idee, ich könnte es doch als DJ versuchen. Also nicht vollberuflich, einfach irgendwie so in der Freizeit – mal den Geburtstag eines Kollegen beschallen, mal in einer Bar, die nicht von der Szene frequentiert wird (da es sonst ja einen Szene-DJ bräuchte), für die Hintergrundmusik sorgen. Das war der Plan, und bald darauf stand ich in der Audio-Geräte-Abteilung des Eschenmoser (heute: Dipl. Ing. Fust) AG unweit vom Hochhaus Werd und fragte nach dem besten DJ-Kopfhörer. Der junge Verkäufer empfahl mir ein schickes Modell der Marke Sony. Diese «Headphones», meinte er cool, würden gut abdichten, die Bässe und überhaupt den ganzen Sound kräftig rüberbringen, und faltbar sei das Teil auch, was Platz spare.

Es sparte tatsächlich Platz – solange das mit dem Zusammenklappen klappte. Doch als ich diesen Handgriff nach einem DJ-Set einem Kollegen überliess, der mich begleitet hatte, war mein Kopfhörer danach kein Kopfhörer (im eigentlichen Sinn) mehr, sondern ein Kopfbügel mit zwei Ohrmuscheln, die unkontrolliert (da abgebrochen) runterhingen. Mein Kollege war zornig und fluchte über die «lausige Qualität», dabei schwitzte er wie verrückt – die typische Reaktion, wenn einer in leichte Panik ausbricht, weil er weiss, dass er etwas kaputt gemacht hat, das knapp 300 Franken kostet. Ich beruhigte ihn und sagte, ich würde im Fachgeschäft vorbeigehen und mich erkundigen, ob allenfalls eine Reparatur möglich wäre. Derselbe junge Verkäufer, der mir das Ding angedreht hatte, lachte mich bei der Frage schallend aus. «Aber du kannst ja mal bei Sony in Schlieren nachfragen.»

Schlieren – irgendwie ein Göttimeitli

Es war wohl eher als schwarzhumoriger Scherz gemeint, doch ich tat es trotzdem. Ich fuhr mit der Vespa von Wiedikon Richtung Altstetten, bald nach dem Farbhof liess ich die Stadt hinter mir und befuhr auf Höhe der Hermetschloostrasse (bei der ich mich in all den seltenen Fällen, in denen ich ihren Namen sehe, frage, wer wohl dieser Hermet sei, dessen Chloo – also Klo, also Toilette – da so prominent verewigt worden sei; bei Wikipedia wurde ich nicht fündig, wenn jemand mehr weiss, bitte melden, mässi) seit Jahren wieder mal Schlieremer Boden. Zehn Minuten später bog ich im Zentrum von Schlieren links ab, genauso, wie ich es jeweils mit meinem Vater getan hatte, als wir zum Tennis ins «Vitis» gefahren waren – der Sitz der Firma Sony befand sich nämlich quasi auf der gegenüberliegenden Seite, im Industriegebiet. Ich parkierte, ging hinein, und es war erneut ein junger Mann, der sich den Schaden ansah. Und auch er lachte – aber nicht höhnisch, sondern freundlich. Dann erkundigte er sich nach der Quittung, die ich natürlich nicht mehr hatte, redete rasch mit einem Chef, verschwand im Lager, und zehn Minuten später drückte er mir eine Schachtel mit einem nigelnagelneuen Kopfhörer in die Hand und wünschte gutes Auflegen. Ich war ziemlich hin und weg.

Rettung für den den frischgebackenen DJ: Die Firma Sony in Schlieren.

Ja, und wegen all diesen Vorkommnissen – das ist irgendwie menschlich – ist Schlieren meine Lieblingsagglo. Mit Betonung auf Agglo (in die es einen Cityslicker aus Prinzip eher selten verschlägt) – um aufrichtig zu sein, besuchte ich sie nämlich noch seltener, als ein schlechter Götti sein Göttlimeitli besucht; es hat in den letzten drei Jahrzehnten einfach kaum mal einen wirklich unwiderstehlichen Grund für eine solche Stippvisite gegeben. Doch unversehens war das anders. Wegen der Limmattalbahn und dem bereits schon ab nächsten Montag bis nach Schlieren verlängerten «2er». Und weil mich das als vbzonline-Sonderkorrespondent tatsächlich etwas angeht, fuhr ich unlängst wieder mal da hinaus, um für Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu erkunden, wie sich die kleine Vorstadt für die grosse Zukunft herausgeputzt hat.

Allerdings machte ich diesen Besuch blöderweise am heissesten Tag im Juni. Wie es war, das Innehalten in dieser Schlieremer Tropenhitze, lesen Sie nächste Woche.

Die verlängerte Linie 2 nach Schlieren

Am Montag, 2. September ist es soweit: Die Linie 2 fährt bis nach Schlieren, Geissweid. Hier finden Sie alle Details zur verlängerten Linie 2 und zur Limmattalbahn

 

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