Mit 55 km/h durch Vietnam

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute berichtet Natascha Klinger über ihre Erfahrungen mit dem öffentlichen und weniger öffentlichen Verkehr in Vietnam.

Wie transportieren Sie Ihre neue Tiefkühltruhe nach Hause? Bestimmt auf dem Motorroller. Nein? Also in Vietnam ist man diesbezüglich völlig unverkrampft. Da knattern tausende Motorroller und Scooter durch die Strassen, beladen wie Ameisen im Zuckerwarengeschäft. Hopp, Waschmaschine aufs Lenkrad, und los geht’s. Auf den Gepäckträgern türmen sich, millimetergenau zusammengefügt wie die Steine der alten Pyramiden, so viele Kisten, dass man sich ernsthaft fragt, wie es das Vorderrad überhaupt noch auf den Boden schafft.

Jedenfalls sieht man über so manch einem Auspuff – Sensible mögen diesen Abschnitt bitte überspringen – kläglich gackernde Hühner in Käfigen. Ganz arme Schweine werden, in Hälften zerlegt und unverpackt, durch die abgasgeschwängerten Städte gekarrt – en Guete. Dazu malträtiert eine Kakophonie fröhlich trötender Hupgeräusche die Ohren. Ja, fröhlich. Anders als bei uns ist das Hupen in Vietnam nämlich kein Synonym für den Mittelfinger, es heisst ganz einfach: «Achtung, hier komme ich». Was freilich wenig Sinn macht – wie soll man ahnen, wer wann woher kommt, wenn alle kreuz und quer gleichzeitig hupend einher fahren, um wie durch ein verkehrstechnisches Wunder aneinander vorbei und unter den augenscheinlich zu Dekorationszwecken aufgestellten Ampeln durch zu rauschen?

Weiter geht’s per Bus oder Bahn

Ein Volk, das seine Roller derart immens mit Kisten vollpackt, bräuchte im ÖV wohl Doppelstöcker, um die gleiche Menge Ware befördern zu können. Den «Luxus» mehrstöckiger Busse und Züge darf man in Vietnam freilich nicht erwarten – bekanntermassen hatte das Land in der Vergangenheit andere Sorgen, als in perfektes Rollmaterial zu investieren. Der ÖV spielt aber dennoch eine Rolle. Auf zahlreichen Strecken führen Busse ans Ziel.  Zumindest vermeintlich, böse Zungen schnöden nämlich von einem «Wahnsinn auf vier Rädern», ausgedeutscht: Überall übermüdete Chauffeure und ein gemeingefährlicher Fahrstil. Ob dem so ist, kann ich nicht beurteilen. Meine Reise führt über 688 Kilometer von Hanoi im Norden des Landes nach Hue in Zentralvietnam, da entscheide ich mich doch für den Nachtzug.

So trete ich also am Perron, an dem der Wiedervereinigungsexpress* gleich eintreffen soll, von einem Bein aufs andere. Eine Schweizer Mitreisende verkürzt mir die Wartezeit. Auf ihrer letzten Zugfahrt, erzählt sie, hätten drei ältere Chinesen auf den Betten ihres Abteils gesessen, ohne jegliche Anzeichen, selbige freigeben zu wollen. Als sie schliesslich erzürnt einen Schaffner aufsuchte, habe sie dieser streng zurecht gewiesen: Dem Alter ist in Vietnam bedingungslos Respekt zu zollen. Auch wenn es im falschen Abteil sitzt.

Im einem Zug durch enge Gassen

Allen Unkenrufen zum Trotz fährt der Zug pünktlich ein. Kaum habe ich, taumelnd unter dem Gewicht meines Rucksacks, die Bahn bestiegen, hüpfe ich entsetzt beiseite, als läge eine Cobra im Weg – mit wildem Flügelschlag flattert nämlich ein Huhn aufgeregt durch die Gänge, gackernd zwischen den Beinen eines Coiffeurs hindurch, der da mit seinem Hintern halb aus dem Abteil herausragend sein Werk verrichtet… und einem Mitreisenden vor Schreck um ein Haar ins Ohr schneidet.

Okay, so hätte ich Ihnen das jedenfalls gerne erzählt. Aber natürlich ist das Mumpitz. Der Zug hält nicht, was die Szenen auf der Strasse versprechen. Die Wahrheit: Im Fahrzeug herrscht gähnend öder Komfort. Lavabo, Kissen, Leintuch, alles vorhanden. Keine verirrten Chinesen auf meinem Bett. Noch nicht mal ein einzelner Europäer sitzt da. In «meinem» Zug bringt nur ein gelber Blumenstrauss etwas Farbe ins Geschehen.

Der Zug windet sich zunächst in Hanoi durch enge Gassen, so dicht an den Häusern vorbei, dass die Anwohner besser erst den Fahrplan studieren sollten, ehe sie den Kopf aus dem Fenster strecken. In der Schweiz könnte die SBB die Protestschreiben wohl kaum zählen, die ihr bei einer derartigen Verkehrsplanung ins Haus flattern dürften. Aber zurück zur Fahrt: Hungrige bekommen Snacks, getrocknetes Rindfleisch beispielsweise, und frisch zubereitete Suppe serviert – ohne frittierte Kakerlaken, gebratene Wasserschlange oder Durian zum Dessert. Auch kulinarisch wird mein Wunsch nach ein bisschen Kulturschock von den vietnamesischen Verkehrsbetrieben also konsequent ignoriert. Wir logieren im Vierer-Abteil mit Soft-Sleepern – was immer «soft» auch heissen soll: Bicoflex ist definitiv softer. Aber hey, wir sind ja keine Warmduscher… Es gäbe da auch noch die günstigste Klasse mit Holzbänken. So hart im Nehmen sind wir dann aber doch wieder nicht. Die Fahrt dauert immerhin 12.5 Stunden.

Leicht schwankend tuckert der Zug mit gemächlichen 55 Stundenkilometern dahin. So lässt sich der Ausblick auf die vorbeiziehende, saftig-grüne Landschaft geniessen, als sässe man im Schaukelstuhl. Dachte ich – doch die Mitreisenden ziehen den Rollo zu und löschen das Licht. Chúc ngủ ngon, guet Nacht.

*Der Wiedervereinigungsexpress

Der Wiedervereinigungsexpress, Vietnams Hauptbahnlinie, verkehrt auf 1700 Kilometern zwischen Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt aka Saigon und benötigt dazu je Verbindung etwa 30 bis 41 Stunden. Die Strecke wurde während des Vietnamkrieges schwer beschädigt und konnte erst Ende 1976 wieder aufgenommen werden. Seither gilt sie als Symbol der Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam. Für die Reise bieten sich vier Zug-Klassen an: Hard-Seater, Soft-Seater, Hard-Sleeper und Soft-Sleeper. Der Name ist dabei Programm. Die Betten in den Schlafabteilen sind aber nichts für grossgewachsene Menschen. Wegen der Schmalspur, die in Vietnam verwendet wird, sind die Betten gerade mal 180 Zentimeter lang. Der Schnellzug (!) ist mit 55 Stundenkilometern unterwegs. Es geht es aber auch durchaus noch langsamer. Die weniger komfortablen Züge schleichen mit rund 47 Stundenkilometern durch die Gegend. Angeboten werden sechs Fahrten täglich in jede Richtung.

BESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswyBESbswy

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren