Sechs Arten zu warten

Warten auf Godot, Freitag oder – na klar – auf Tram und Bus. Warten kann nerven. Muss aber nicht. Unsere Redaktorinnen und Redaktoren erzählen, wie sie die Zeit an der Haltestelle nutzen, bis die Reise weitergeht.

Warten, das ist die Überbrückung der Zeit ab jetzt bis zur nächsten erwünschten Zukunft. Und sowas in einer Gesellschaft, in der so gern vom «Hier und Jetzt» geredet wird. Gerade die Haltestellen der VBZ sind eine Brutstätte der Warterei, wenn auch nur für wenige Minuten. Unsere Redaktion hat sich Alternativen zum angestrengten Blick in die Richtung, aus der das Fahrzeug kommen sollte, überlegt.

Oliver Obergfell

Ich stehe an der Haltestelle. Es ist kalt. Gedankenversunken lausche ich der Musik aus dem Telefon. Ein Tram fährt ein. Ist aber nicht meins. Da war doch noch was. Ach ja! Wir sollen im Stadtmagazin darüber berichten, was wir an der Haltestelle treiben, wenn wir uns auf unsere nächste Verbindung gedulden. Hmmm. Mal überlegen. Was mach ich denn gerade? Eine SMS trifft ein. Der Song ist aber gerade echt gut. Ich lese es später. Eine Windböe fegt durch die Haltestelle, herrje, wie das zieht. Der Ohrhörer fällt raus und verheddert sich. Was für ein Gejufel auf einmal. Moment, da steht mein Tram! In letzter Sekunde zwänge ich mich durch die Tür. Ich muss sitzen. Durchschnaufen. Ging ja gerade nochmals gut. Wo war ich? Jetzt wollte ich mir doch überlegen, was ich an der Haltestelle mache, wenn… ach komm, das kann warten.

Silvia da Silva

Wie die waschechten Zürcher schaue ich nicht im Fahrplan nach, wann der nächste Bus fährt. Ich marschiere einfach drauf los und lasse mich an der Haltestelle überraschen, ob grad ein Bus kommt oder ob er mir allenfalls soeben vor der Nase abgefahren ist. Ist Letzteres der Fall, setze ich mich auf die Wartebank und fröne einem meiner liebsten Hobbys: Leute beobachten. Da sehe ich schon ein geeignetes Objekt in der Gestalt eines Teenagers (nennt man die eigentlich noch so? Ich gehöre zur Generation der Babyboomer und habe vielleicht nicht mitbekommen, dass der Begriff «Teenager» inzwischen megaout ist). Egal, was mir ins Auge springt, sind die nackten Fesseln der jungen Dame, die scheinbar trotz Minustemperaturen und Schneefall keine Socken trägt. Ist wahrscheinlich der letzte Schrei. Mich frierts vom blossen Hinsehen. Während ich mich nach weiteren Studienobjekten umschaue, kommt schon der Bus, der mich nach Hause bringt.

Der letzte Schrei: Winterlicher Sockenverzicht. (Bild: VBZ)

Natascha Klinger

Stocksteif wie ein chinesischer Terrakotta-Krieger stehe ich an der Haltestelle. Schuld daran ist mein Physiotherapeut. Ich soll nämlich meine Tiefenmuskulatur stärken, meint er, «drei Mal täglich, zehn mal zehn Sekunden, das verbessert die Koordination». Oh je. Sowas vergess ich ganz gerne, in der unkoordinierten Betriebsamkeit meines Alltags. Ausser jetzt, denn ich hab ja gerade nichts besseres zu tun, als konzentriert zu erstarren, während ich auf das Tram warte.  Sieht sicher voll doof aus – egal. Ich ziehe also meine spärlich vorhandenen Muskeln an Kreuz, Bauch und unter den Rippen zusammen, bis ich so angespannt bin wie die politische Lage im… Das Denken fällt mir schwer. Ich hab was vergessen. Ach ja – atmen! Jetzt noch fünf Sequenzen, und dann – ah nei, gopfridli, muss dieses Tram jetzt schon kommen?

Auch am Helvetiaplatz wurden die Koordinationsübungen offensichtlich etwas zu lange durchgeführt. (Bild: VBZ)

Daniel «Soldi» Soldenhoff

Meine Uhr zeigt 8.34 Uhr, ich stehe noch etwas angemüded an der Haltestelle Schiffbau und warte auf den 8er. Dann heisst es jetzt, die Zeit gut zu überbrücken. Am liebsten mache ich das mit heiterem Beruferaten. Dazu schaut man sich die Menschen um sich herum an und versucht zu erraten, was für einem Job sie nachgehen. Zum Beispiel der Herr mit teurer Ledermappe und feinstem Schuhwerk – er wird wohl Richtung Stockerstrasse fahren und bei einer Bank arbeiten. Oder die junge Frau mit ihrem Cello, sie fährt ganz bestimmt ins Toni Areal, um an der ZHDK Musik zu studieren. Dann rennt mir ein asiatisches Paar mit Rollkoffer entgegen, ganz klar Touristen. Vor lauter Beruferaten bemerke ich gar nicht, wie die Zeit vergeht, und schwupps rollt schon der 8er heran. Jetzt wirds richtig spannend, denn jetzt heisst es, die Aussteigenden noch zackig in Berufsgruppen aufzuteilen. Die Temporunde sozusagen: Der Typ mit Headset? IT-Supporter. Die Dame mit der bunten Wanderjacke? Lehrerin. Der Mann mit zerknittertem Anzug? Versicherungsagent. Ob ich da wirklich überall richtig getippt habe? Keine Ahnung. Nur bei einer bin ich mir ganz sicher, die Frau ganz vorne in der blauen Uniform: Es ist die Trampilotin.

Elina Fleischmann

Fahre ich morgens mit dem 66er zur Sihlstrasse in den Kreis 1, hoffe ich, dass nicht gleich der 2er folgt, weil ich gerne aufs nächste oder gar übernächste Tram warte. Dies definitiv nicht, weil die Haltestelle beim Talacker besonders schön ist. Nein, weil es den besten Kaffee gibt in unmittelbarer Nähe. Ich lasse also den nächsten Kurs immer aus und hole mir den Heidi-Latte mit gerösteten Haferflocken. Den zweiten Kurs verpasse ich dann auch meist, dafür habe ich an der Haltestelle Zeit, meine Kopfhörer einzustecken und eine zur Stimmung passende Band zu wählen. Ein guter Start in den Tag, egal in welcher Jahreszeit. Trifft dann der 2er ein, suche ich mir einen Fensterplatz, um das Stadtkino zu beobachten. Mit meinem Lieblings-Kafi in der Hand.

Ursula Heiniger

Dunkel ist‘s, der Tag noch jung. Ein idealer Zeitpunkt, um vor der Fahrt innezuhalten und sich für den bevorstehenden Tag zu sammeln. An der Haltestelle also der Klick auf die zur App gewordenen Meditationshilfe «7 Minds». Sie richtet das Wort an mich: «Hi! Willst du mit deinem Kurs weitermachen? Alternativ kannst du auch nach anderen Themen stöbern?». Gute Frage… wonach steht mir denn heute der Sinn? Zuerst ein Blick in die Pendlerzeitung – verpassen will man ja trotz Besinnung nichts. Dann aber schnell zurück zu meiner Morgenbesinnung: «Lade deinen Akku auf, in nur 7 Minuten: Einschlafen, Aufwachen, vor dem Meeting, Meerrauschen, Indische Flöte…». Irgendwie passt das Angebot heute nicht so richtig. Und prompt reagiert meine liebgewonnene App: «Probiere es doch später noch einmal und geniesse deinen Tag!» Gute Idee, ich versuche es morgen wieder. Und sowieso: Ich habe meine Mitte immer noch, es ist ja Morgen früh!

Am frühen Morgen lassen sich die Übungen der Meditations-App auch gleich an der Haltestelle durchführen. (Bild: Ursula Heiniger)

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