Singapur – Dschungel der Vorschriften

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute berichtet Livia Häberling über ihre Eindrücke aus Singapur.

«Singapore is a fine city», besagt ein englisches Sprichwort. Was meint der ehemalige Kolonialherr damit? Der Optimist ist sich sicher: «Singapur ist eine schöne Stadt. Sie ist klein, aber fein, weltoffen, sauber und reich.» Der Pessimist hingegen poltert: «Singapur ist ein Dschungel aus Regeln, Verboten und vor allem aus Geldstrafen» – also aus sogenannten «fines». Es gilt nun, eine der Thesen zu verifizieren. Und weil es mehr Vergnügen verspricht, einen Miesepeter zu enttarnen als eine Schönheitskönigin zu küren, habe ich überprüft, was der Öffentliche Verkehr von Singapur an Vorschriften zu bieten hat.

Schwitzen unerwünscht

Bereits kurz nachdem ich mich über die Treppe in die Unterwelt des öffentlichen Verkehrs begebe, kann ich genüsslich meinen ersten Volltreffer verbuchen. Die erste ungeschriebene ÖV-Regel widmet sich den körperlichen Ausdünstungen der Pendler und lautet in etwa so: «Geschwitzt wird auf der Erdoberfläche, und nicht darunter». Die Klimaanlage sorgt pflichtbewusst dafür, dass auch ausserhalb der Bahnwaggons im gesamten unterirdischen Labyrinth aus Gängen frühherbstliche Temperaturen vorherrschen. Man raunt mir zu, in den Bussen seien es gar spätherbstliche, entsprechend komme es dort gelegentlich zu Schlotteranfällen von leichtbekleideten Fahrgästen. Frieren ist zum Glück erlaubt.

Hier schwitzt keiner so schnell: Die Bahnwaggons werden stark gekühlt.

Verbotene Früchte

Weiter geht’s. Ich setze meine Suche fort (wobei das Wort «Suche» in diesem Kontext ein relativer Begriff ist – ich brauche nur ein paar Schritte zu gehen und die Augen offen zu halten), und prompt lande ich den nächsten Treffer. Das hat Supermario-Charakter; man stellt sich auf die grüne Wiese, blickt nach vorn und erntet dabei die low-hanging-fruits. Denn in der nächsten Regel geht’s tatsächlich um sogenannt «verbotene Früchte» nach biblischem Vorbild. Konkret: Getränke und Esswaren aller Art sind hier im ÖV verboten, die Missachtung der Vorschrift wird gebüsst. Und zwar mit einer 500-Dollar-fine. Und wer raucht, bezahlt gar das Doppelte. Zur Nahrungs-Sperrzone gehört übrigens nicht nur das Gleisareal, sondern sämtliche unterirdischen Gänge.

Nahrung und Nikotin werden im U-Bahnareal nicht geduldet, genauso wie brennbare Flüssigkeiten.

Kein Abfalleimer weit und breit

Jetzt wird’s anspruchsvoller. Die nächste Regel kommt zwar etwas kryptisch daher, aber mit dem nötigen Scharfsinn erweist sich das Rätsel als Klacks: «Abfall wird zuhause entsorgt», heisst das Codewort. Mülleimer sucht man hier nämlich vergebens. Daraus allerdings zu schliessen, das Depot für den eigenen Unrat könne selbst festgelegt werden, wäre fatal. Das sogenannte «Littering» ist in Singapur – der geneigte Leser ahnt es bereits – eine Straftat, die mit Sozialarbeit oder hohen Geldstrafen belegt ist.

Im U-Bahnsystem von Singapur bleibt nichts dem Zufall überlassen.

 Selbstjustiz auf der Rolltreppe

Die nächsten beiden Anweisungen sind dann wieder unmissverständlich. Auf der Rolltreppe herrscht in dieser Unterwelt, wie notabene auch in der Oberwelt, strikter Linksverkehr – daran wird der Pendler regelmässig erinnert. Der notorische Rechtssteher hat zwar (noch) keine Strafverfolgung zu befürchten, er wird jedoch rasch zur persona non grata und von den anderen Pendlern rege mit bösen Blicken abgestraft (wer regelmässig über den Hauptbahnhof Zürich reist, kennt diese Selbstjustiz unter Fahrgästen). Gleiches – und damit sind wir bei Anweisung zwei – passiert übrigens mit den Ungeduldigen, die den Bodenmarkierungen zu wenig Beachtung schenken und es wagen, sich auf den grünen Pfeil zu stellen, der den aussteigenden Fahrgästen den Weg weisen soll.

Der Linksverkehr. Ein Überbleibsel aus vergangenen Kolonialzeiten.

Prävention statt Strafe

Das Beste gibt’s bekanntlich stets zum Schluss. Und so möchte ich Ihnen die bizarrste aller Perron-Regeln, denen ich in Singapur begegnet bin, als «grande Finale» präsentieren. Der Zyniker würde sagen: «Auf Singapurs Gleisen wird nicht gestorben». So zumindest lassen sich die Verglasungen zwischen den Gleisen und dem Perron interpretieren (die Glasscheibe könnte auch einen Sicherheitszweck erfüllen, aber soweit wollen wir hier nicht gehen). Natürlich ist das Betreten der Gleise auch in der Schweiz verboten, allerdings gestaltet sich die Strafverfolgung aus notorischen Gründen oftmals als unmöglich. Somit bedient sich Singapur hier eines speziellen Kniffs und setzt ausnahmsweise auf Prävention statt Sanktion.

Die Verglasung stellt sicher, dass die Fahrgäste nicht aufs Gleis gelangen.

Nach meiner Probe aufs Exempel stelle ich fest: Singapur hält durchaus, was das britische Sprichwort verspricht. Man ist bemüht, mit einem Dschungel aus Regeln, Verboten und Geldstrafen eine schönere Stadt zu schaffen. Und das gelingt ziemlich gut: «Singapore is a fine city».

Das ÖV-Netz von Singapur: eine Erfolgsgeschichte

 Singapur verfügt über ein sehr gutes öffentliches Verkehrssystem. Gemeinhin wird es «MRT» (Mass Rapid Transit) genannt und bringt einen leicht in sämtliche Ecken der Stadt. Auf fünf verschiedenen Linien verbindet es die Stadtteile mit der Agglomeration. Die Strecken werden – abgesehen von einem Abschnitt ausserhalb der Stadt – unterirdisch geführt. Seit der erste Metro-Teilabschnitt im Jahr 1987 eingeführt worden ist, hat man das Netz kontinuierlich ausgebaut. Singapur ist für sein innovatives öffentliches Verkehrssystem mittlerweile weltweit bekannt und nimmt eine Vorbildrolle ein. So werden mittlerweile zwei der fünf Linien führerlos betrieben. Für die nahe Zukunft sind Erweiterungen an vier Linien sowie die Einführung einer neuen Strecke geplant. Das Preis-Leistungs-Verhältnis bei der Benützung des öffentlichen Verkehrs in Singapur darf als sehr gut bezeichnet werden. Obwohl für die Erhaltung und den Ausbau der guten technischen Standards hohe Kosten anfallen, sind die Billetpreise sehr günstig. Für zwei Singapur-Dollar fährt man problemlos an das andere Ende der Stadt, was den öffentlichen Verkehr somit für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich macht.

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