Vom Friedhof Sihlfeld zum Milchbuck

Kurze Blicke, der Wind, ein Hämmern von weither: Sinnliche Nuancen des Daseins. All dies ist – mit einer feinen Beobachtungsgabe – auch und vor allem an den Haltestellen der Zürcher Trams und Busse einzufangen. Die 18-jährige Mila Weber hat genau dies entlang der Linie 72 getan und in ihre Maturaarbeit einfliessen lassen. Entstanden sind dabei berührende Stimmungsbilder in Text und Filzstift. (Teil 2)

Die Tram- und Buslinien in Zürich sind gewissermassen die Lebensadern der Stadt. Besonders deutlich machen das die Texte und Bilder von Mila Weber, welche ihre Maturaarbeit vergangenes Jahr dem Geschehen an den Haltestellen entlang der Linie 72 gewidmet hat. Inhalt der Arbeit war es, die gezeichneten Haltestellen als Bühnenbilder durch Text zu beleben. «Die Wahl fiel auf die Linie 72, weil sie einen grossen Teil der Stadt abdeckt

und durch ganz unterschiedliche Umgebungen führt», schreibt die junge Künstlerin. Für ihre Zeichnungen liess sie sich von den Stadtbildern des Zürcher Künstlers Ingo Giezendanner inspirieren. Das besagte Werk hat sie uns nun zur Verfügung gestellt, damit wir es Ihnen in einer zweiteiligen Folge vorstellen können. Heute lesen Sie Teil 2 der Reise vom Morgental nach Milchbuck.

Friedhof Sihlfeld, 00:32

3 junge Leute im Dunkeln. Man merkt ihnen die Anstrengung an, an der Art, wie sie atmen. Aber wo ist der Bus, den sie auf keinen Fall verpassen wollen? Kurz nachsehen. Natürlich, er ist zu spät.

2 Minuten. Die beiden Mädchen in der Gruppe umarmen sich, der Junge bleibt nebendran stehen. Ohrgeflüster, leises Wispern in die Nachtluft. Erneute Umarmung.

Und dann, plötzliches Aufschluchzen. Eine schüttelt den Kopf. Sie flüstert etwas, das nur ihr Gegenüber hören kann. Die andere drückt noch mehr zu.

«Ich will nicht nachhause!», ertönt es hallend durch die Strasse. Ein Schrei, voller Panik und Verzweiflung. Im selben Moment ein rascher, pfeifender Windstoss, der die umgebenden Bäume noch eine Spur bedrohlicher wirken lässt.

Sie sehen sich in die Augen. Verständnis. Mitleid. Und doch dieser bestimmte Ausdruck in den Augen, der ‘du musst aber’ als Antwort mit sich trägt.

1 Minute. Tränen fliessen. Jetzt der Blick nach unten. Kaum vorhandenes Nicken, das man sich vielleicht auch nur einbildet. Der Bus kommt. Eine knappe Umarmung mit dem Jungen, der weiss, dass er sich raushalten sollte. Glasige, leere Augen, als sie allein in den Bus steigt.

Friedhof Sihlfeld. (Bild: Mila Weber)

Schiffbau, 02:27

Die Stadt schläft.
Alle Lichter sind aus, nur die Strassenlaternen leuchten und konkurrieren mit dem weissen Mondschein, heute eine Sichel.
Eine dunkle Gestalt liegt auf der Bank, eingehüllt in einer Wolldecke. Man könnte meinen, sie sei tot.
Es ist nicht besonders kalt draussen, der Asphalt ist noch immer aufgewärmt vom Vortag. Die Temperatur jetzt ist fast angenehmer als die in der Tageshitze.
Etwas bewegt sich, die Decke rutscht ein wenig nach unten und gibt den Blick auf ein altes, verschrumpeltes Gesicht eines Mannes frei.
Hier oben ist er ungestört, fast niemand kommt um diese Zeit noch hierhin. Sogar Autos jagen nur noch vereinzelt die Strasse entlang.
Auf und ab bewegt sich das Bündel, in dem er eingewickelt ist. Ruhiger, regelmässiger Atem.
Er lebt, er ruht sich bloss aus.
Wartet auf den nächsten ziellosen, aber doch hoffnungsvollen Tag.

Schiffbau. (Bild: Mila Weber)

Rosengartenstrasse, 03:59

Wenn man vorbeifährt, übersieht man sie allmählich.
Aber sie sitzt da, verborgen unter der Treppe. Kleine, zierliche Gestalt.
Zu grosse Jacke, zu kurzes Top. Nackte Beine unter dem Minirock.
Die heisse Frühherbstluft hat sich abgekühlt, man kann in der Nacht wieder schlafen, ohne mittendrin schweissgebadet aufzuwachen.
Ihr blonder Haaransatz glänzt in der schwachen Beleuchtung. Ab und zu wirft das flackernde Neonlicht der Werbeplakate nebenan Licht auf das junge Gesicht, noch frei von Falten.
Blick auf den Boden gerichtet. Sie wirkt nüchtern, fast ein wenig traurig.
Dann ein Blick aufs Handy.
Es ist Punkt.
Adrenalin schiesst durch ihren Körper. Spürbarer Herzschlag, Hitze um die Ohren, versteifte Körperhaltung.

Und genau in diesem Moment erscheint er. Lässig, schlendernd, die Strasse nach unten.
Seine Hände in den Hosentaschen, schwarze Markentrainerhose. Bauchtasche. Grauer Hoodie.
Hastig wirft sie ihre Zigarette auf den Boden, steht auf.
Eine knappe Umarmung zur Begrüssung. Etwas Kleines, im Licht Schimmerndes, das er aus seiner Bauchtasche herauszieht. Zitternde Hände, die es entgegennehmen und anschliessend zwei Geldscheine hinhalten.
Einen Augenblick später ist er weg.

Sie bleibt noch einen Moment, atmet ein und aus. Sammelt sich wieder. Macht sich ein wenig verloren auf den Weg, die breite Strasse entlang zur nächsten Zugstation.

Rosengartenstrasse. (Bild: Mila Weber)

Bucheggplatz, 04:33

Aggressiver Englischrap. Ein Junge brüllt den Text nach. Sein Stimmbruch ist herauszuhören. Er stampft, offensichtlich berauscht, die runde Treppe nach oben. Lautes Scheppern. Der leichte Wind trägt das Geräusch davon. Es ist stockdunkel.
«Manu!» Lauter Ruf, hohe Stimme. Ein Mädchen eilt ihm hinterher, setzt aber nur zwei Schritte auf die Treppe. Schaut nachoben. Dahinter zwei weitere Jungs, im gleichen Alter.
«Manuel!»
Fast ein wenig hysterisch brüllt sie seinen Namen. Das Scheppern hört auf, fragende Blicke von unten. Der Rap läuft weiter im Hintergrund, kurz hört man nur das und die Bäume, die vom Wind durchgeschüttelt werden.
«Manu?» Einer der Jungs steigt nach oben, die anderen folgen.
Da, ungefähr in der Mitte, eine Gestalt, zusammengekauert. Der vordere geht in die Hocke, klopft ihr auf die Schulter. Keine grosse Reaktion. Auch die anderen zwei kommen näher, zuerst ein wenig ratlos.
Dann, mit einem Ruck, heben sie den schlaffen Körper hoch, stützen ihn und gehen vorsichtig wieder nach unten. Mühsam und stolpernd.
Aber sie schaffen es. Der Bus hält an, bleibt ein wenig länger stehen. Fährt ein wenig langsamer und kontrollierter als normal weiter.

Bucheggplatz. (Bild: Mila Weber)

Milchbuck, 05:48

Alles ist wie ausgestorben. Festgehangen zwischen Nachtende und Tagesanbruch.
Leergefegte Strassen, kühle, noch nicht erhitzte Luft. Windstille. Nur leichter Nieselregen, der sanft aufweckt.
Jetzt leise Schritte, die immer näherkommen. Eine dunkle, kleine Gestalt, Ledertasche in der rechten, Kaffeebecher in der anderen.

Sie geht bestimmt, relativ zügig, lässt sich schliesslich auf der überdachten Bank nieder, stellt die braune Tasche ab.
Bitterer Kaffeeschluck, flüchtiger Blick. Die letzten kommen Nachhause, die ersten fahren zur Arbeit.
Der kleine Mann versucht, sich zu konzentrieren, sich die Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Er hätte locker ein paar Minuten länger liegen können, denn der Bus kommt erst jetzt. Er steigt ein. Noch 7 Minuten bis zur Abfahrt.
Ein Mann im Bus. Schwitzige Haare, ungepflegter Bart, vor sich hin brabbelnd. Verrücktes Lachen. Ansonsten ist es ruhig. Nach kurzer Zeit steht er auf. Beim Aussteigen riecht man seine kalt-nasse, beissende Fahne. Wohin der Weg ihn wohl führt?
Motor an, dabei das altbekannte Geräusch. Nächster Halt, Bucheggplatz. Für den Frühaufsteher fängt die Fahrt gerade erst an.

Milchbuck. (Bild: Mila Weber)

Zu Teil 1 dieser Serie

Zur Person

Die 18-jährige Mila Weber wohnt in der Nähe von Morgental, dort wo die Buslinie in Teil 1 dieser zweiteiligen Serie ihren Lauf nimmt. Die Maturandin an der Kantonsschule Wiedikon schreibt, zeichnet und macht Musik, ebenso gilt ihre Leidenschaft aber auch Schulfächern wie Geschichte und Politik. Nach ihrer Matur wird sie ein Zwischenjahr einlegen und nach einer Zugreise per Interrail eine Atlantiküberquerung mit dem Segelschiff antreten, bevor sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz den weiteren weiteren Berufsweg einschlägt. 

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