Wie fröhlich ist die Fröhlichstrasse?

Man muss nicht unbedingt zur Fröhlichstrasse fahren, um im ÖV im Herzen berührt zu werden. Es kann aber geschehen, dass das Eine mit dem Anderen zusammenfällt und Neugierde weckt. Vbzonline-Leserin, Transaktionsanalytikerin und Autorin Hilde Anderegg Somaini lässt uns mit einem Gastbeitrag daran teilhaben.

Der einzige noch freie Sitzplatz im Tramwagen ist der vorderste Sitz rechts, reserviert für Personen mit einer Behinderung. «Bitte diese Plätze für Personen mit beeinträchtigter Mobilität freigeben», steht da in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. Wohl bin ich des Öfteren beeinträchtigt in meiner Gehfähigkeit, wenn auch nicht wirklich behindert, eher manchmal müde und auf eine langsamere Gangart angewiesen. Doch so erlaube ich mir – wenn auch etwas beschämt – den Platz zu besetzen auf meiner Heimfahrt Richtung Tiefenbrunnen.

Am Bellevue steigt eine junge Mutter mit einem Kinderwagen zu. Darin höckelt ein Kind von etwa einem Jahr alt. Sie platziert ihren Wagen so – vermutlich zufällig – dass mich das Kind aus guter Distanz betrachten kann. Die Mutter lehnt sich an eine Querstange und fingert an ihrem Handy. Das Kind im Wagen schaut mich mit grossen Augen an. Tiefblau sind sie. Sein Mund lutscht an einem Schnuller, befestigt an einem Band – es soll den Fall ins Nichts verhindern.

Mich blickt ein lebhaftes Wesen an, das danach drängt, auf eigene Faust neue Welten zu erkunden. Ich lächle ihm zu. Das Kind schaut mit prüfendem Blick zu mir hin – und nimmt mit dem einen Händchen seinen Schnuller aus dem Mund, lässt ihn fallen, als sei ihm vertraut, dass er an seinem Band gesichert ist. Es lächelt zurück, bezaubernd, verführerisch. Ich meinerseits bleibe bei meinem Lächeln; bin gebannt. Das Kind, Mädchen oder Bübchen, ich bin mir nicht sicher, hebt sein Händchen und winkt mir zu. Ich winke zurück. Es fährt mit seinem Winken fort und bewegt dabei die Fingerchen auf und ab, scheint das zu geniessen. Auch ich wiederhole meine Geste, tue es ihm gleich. Der Kontakt zwischen uns könnte nicht intimer sein. Was ist es, das uns so nahe bringt? Die Neugierde auf das Leben? Des Kindes leuchtend lebhaften Augen? Mein schulterlanges weisses Haar? Das spontane Lächeln, das einem spontanen Lächeln begegnet? «Fröhlichstrasse» informiert die automatisierte Tram-Stimme. «Fröhlichstrasse», wie passend zu meiner aufgeräumten Stimmung! Ich erhebe mich von meinem Sitz und werfe dem Kind im Wagen einen leisen Abschiedsblick zu — bewege meine linke Hand ein letztes Mal, fast zärtlich winkend, spürbar von Freude erfüllt, unbeschwert froh.

Zu Hause angelangt, will ich es genauer wissen: Wie kommt die Fröhlichstrasse zu ihrem Namen? Über Jahrzehnte steige ich hier in die Strassenbahn ein und aus. Doch erst heute wird mir bewusst, dass da eine Geschichte sein muss. In einem Zeitungsartikel des Zürcher Tagblatts von 2014 lese ich:

«Die ehemalige Au- und Fürstenstrasse hinab zum See wird 1838 durch ansässige Steinhauer als Privatstrasse ausgebaut. 1884 wird der untere Teil der Strasse durch die Gemeinde korrigiert und mit Trottoirs versehen. Sie geht 1892 in öffentlichen Besitz über und wird in Fröhlichstrasse umbenannt. Wilhelm Frö(h)lich-Rahn (1504-1562), geboren in Riesbach, war ein berühmter Kriegsherr. Wegen Missachtung des Reisläufereiverbots, der im späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert Schweizer Söldner im Dienste zahlreicher europäischer Herrscher standen, verlor er sein Bürgerrecht. Der Oberst im französischen Diensten, Wilhelm Frö(h)lich, fiel 1562 im Kampf gegen die Hugenotten in Paris. Riesbach, sein Geburtsort, vormals eine selbständige Gemeinde, wird 1893 in einen eigenen, neu geschaffenen Kreis 8 umgeteilt.»

Die Fröhlichstrasse – für mich bis anhin ohne Bedeutung – bleibt die Fröhlichstrasse. Doch sie ist nicht mehr dieselbe, die sie war. Hab Dank, du kleines, waches, mich beflügelndes Mädchen oder Bübchen. Ohne dich wäre ich nicht darauf gestossen, die Hinterlassenschaft der Geschichte im Namen meiner Tramhaltestelle zu finden, geschweige denn sie zu würdigen.

Zur Person

Die Autorin Hilde Anderegg Somaini ist verheiratet, lebt in einer Patchworkfamilie und erfreut sich an vier bezaubernden Enkelkindern. 

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