Zwischen Stadt und Land

Alexandra Wirth pendelt jeden Tag von Fägswil bei Rüti bis zur Universität Zürich. Wir haben die Süddeutsche auf Bus-, Zug- und Tram-Reise an ihren Arbeitsplatz begleitet.

Es ist ein kühler, klarer Herbstmorgen. Der Brunnen plätschert leise vor sich hin und gelegentlich machen sich Kühe vom benachbarten Bauernhof durch ihre Glocken bemerkbar. Eine Dorfidylle wie im Bilderbuch. Ich muss schmunzeln: Wo bin ich hier nur gelandet? Es ist Dienstag, der 22. November, 05.50 Uhr morgens, und ich stehe vor dem Haus von Alexandra Wirth in Fägswil, einem kleinen Dorf im Bezirk Hinwil.

Alexandra ist jeden Tag zwei Stunden mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs.

Derweil der Rest des Dörflis noch schläft, verlässt Alexandra Wirth pünktlich um 6 Uhr das Haus und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Ein fünf-minütiger Marsch durch das dunkle Fägswil führt uns zur VZO-Bushaltestelle. Da die meisten Strassen mangels Laternen im Dunkeln liegen, muss sie den rund fünfminütigen Fussmarsch zur VZO-Bushaltestelle mittels Taschenlampe selbst ausleuchten. Auf dem Weg bleibt sie immer wieder mal stehen und schildert diese oder jene Anekdote über die Häuser, Plätze und Strassen, die wir passieren: «Da rennat oft Katza über d Strooss, die natirlich net uf d Audos guggat. Do griag i schia a Vogl! Des kennts i friahmoagns gar ned eatrogn.»

Typisches Dorfleben

Wir sind vorerst die einzigen an der Haltestelle Pilgerhof. Doch Alexandra Wirth weiss: «Etz kommat dann glei no zwoa Männer, die au uf Züri miasat» Und siehe da: Kurz darauf tauchen die beiden aus der Dunkelheit auf. Sie grüsst sie euphorisch. Hier kennt man sich, typisches Dorfleben eben. Ich wundere mich, wie energiegeladen die 49-Jährige um diese Uhrzeit bereits ist. Und frage sie, wie sie es schafft, jeden Morgen so früh aufzustehen. «I stand uf ohne z’iberlaga. Ma isch sowieso miad, ob’s fümfi, sechsi oder siebeni isch», erklärt sie pragmatisch.

Der Bus kommt pünktlich, und es gelingt uns, noch zwei Plätze zu ergattern. Ich bin erstaunt, wie viele Leute um diese Zeit schon unterwegs sind. Es ist sehr still, man traut sich fast nicht zu reden. Die Menschen sitzen scheinbar emotionslos auf ihren Plätzen, lesen Zeitung, hören Musik oder dösen vor sich hin.

Nach einer vierminütigen Busfahrt kommen wir um 06.13 Uhr am Bahnhof Rüti an. Das Energiebündel tritt schnellen Schrittes aus dem Bus heraus, obwohl der Zug erst in acht Minuten fährt. Sie will stets als Erste aus- und einsteigen. Bei ihr müsse immer alles «tifig» gehen. Dank ihrem roten und auffälligen Rucksack schaffe ich es, sie im Auge zu behalten, während sie schon voraus huscht.

Pendeln mit Strategie

Die Leute hasten aneinander vorbei, kaufen sich einen Kaffee am Kiosk, greifen sich eine Gratiszeitung und treten scheinbar automatisch an «ihr» Geleise, wie sie das Morgen für Morgen für Morgen tun. Auch wir gehen auf den Perron. «Meine» Pendlerin will ganz nach vorn, da dies bei der Ankunft am Bahnhof Stadelhofen der ideale Ort ist, um möglichst schnell zum Bellevue zu gelangen. Ein weiteres Ritual von ihr.

Die S15 hält quietschend vor uns an. Auch hier ist Alexandra die Erste, die den Zug betritt. «Des mach i immer so. Ma muas mit Strategie pendla. Ma ka saga, dass i a strategische Pendlerin bin», erklärt sie mir lachend. Wir nehmen in einem Viererabteil in der ersten Klasse Platz, sie beim Gang, ich am Fenster. Den Luxus der ersten Klasse gönne sie sich gerne, um am Morgen noch ein wenig Ruhe zu haben.

Im Zug checkt Alexandra ihre Mails, liest Zeitung oder beobachtet die anderen Passagiere.

«I bin an Landei. Schtattleba isch mir z’unpersönlich.»

Bald schon brausen wir durch das Zürcher Oberland Richtung Grossstadt, vorbei an Bubikon, Wetzikon und Uster. Auf der halbstündigen Fahrt erzählt sie mir von ihrer Arbeit und ihrem Alltag. Seit 15 Jahren lebt Alexandra Wirth in der Schweiz, in Fägswil, und verbringt täglich zwei Stunden in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Frühaufsteherin macht dies jedoch nichts aus: «I bin an Landei. Schtattleba isch mir z’unpersönlich.» Der Arbeit wegen hat sie ihr Heimatland verlassen, um als Pflegefachfrau in der Schweiz zu arbeiten. Heute ist Wirth in einer Institution beschäftigt, die sich im Bildungs- und Gesundheitswesen engagiert.

Bereits zwei Minuten bevor wir ankommen, steht Alexandra auf und steht zur Tür. Sie erklärt mir, dass es am besten sei, wenn man in der Mitte der Türe stehe. So komme man am schnellsten aus dem Zug. «Strategie halt», sagt sie erneut, und wieder grinsend.

Pulsierendes Zürich

Mit schnellen Schritten bewegen wir uns zum Bellevue. Es ist 06.47 Uhr und noch immer dunkel. Doch Zürich pulsiert schon erstaunlich intensiv: Menschen in Anzügen und mit Aktentaschen rauschen hektisch aneinander vorbei, Trams kreuzen sich und Autos stehen bereits im Stau.

Früh morgens geht es in Zürich hektisch zu und her.

Am Bellevue angekommen, warten wir auf die Tramlinie fünf, die Richtung Uni fährt. Und klar, natürlich ist Alexandra Wirth auch hier wieder in Eile, es gilt schliesslich den imaginären Wettbewerb fortzuführen, sprich schnellstmöglich das Tram zu entern. In diesem duftet es stark nach Kaffee, und mir wird auf der letzten Pendler-Begleitungs-Etappe plötzlich bewusst, dass ich in der morgendlichen Hektik – ich musste ja noch viel früher aufstehen, um rechtzeitig in Fägswil zu sein – völlig vergessen hatte, mir einen solchen Muntermacher zu gönnen.

Um 6.58 Uhr sind wir an der Haltestelle Platte angekommen und damit (endlich!) am Ziel. Fast eine Stunde sind wir mit dem öffentlichen Verkehr quer durch den Kanton Zürich gereist – von der ländlichsten Ecke bis in die lebendige Stadtmitte. Für Alexandra Wirth, die sich für meine Begleitung bedankt, herzlich verabschiedet und mit ihrem leuchtend roten Rucksack in die Dunkelheit entschwindet, ist das alles Routine, ein Morgen wie jeder andere. Für mich, denke ich innerlich schmunzelnd, ist es das zum Glück nicht – mich hat nämlich schon diese Premiere ähnlich geschlaucht wie ein anstrengender Arbeitstag.

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